Vor einigen Jahren machte ich Ferien in der Normandie. Ich war nie zuvor da gewesen, aber die kleinen Fachwerkhäuser und der mittelalterliche Charme der Straßen kamen mir erstaunlich bekannt vor. Ein Déjà Vu-Erlebnis, aber woher? Allmählich kam mir ein Jubiläums-Band der Peanuts in den Sinn, ein Making of-Buch, in dem Charles M. Schulz von seiner Stationierung in Frankreich erzählte, Mitte der 40er-Jahre mit der amerikanischen Armee. Über 30 Jahre später kehrte er nochmal zurück und fertigte eine Reihe von Skizzen, die er zum Abdruck freigab. Eben diese Zeichnungen hatten sich in meinem Unterbewußtsein festgefräst und nährten mein Normandie-Bild, noch bevor ich die Gegend überhaupt kennenlernte.
Meine erste Bekanntschaft mit den Peanuts machte ich als Kind, Mitte der 70er, auf einem Poster im Freiburger WG-Zimmer meiner Tante. Es zeigte Linus mit der berühmten Schmusedecke. Diese Tante wurde ein paar Jahre später übrigens Patin meines kleinen Bruders, der das Prinzip der Schmusedecke zur Perfektion trieb. Selbst Anfang der 80er, auf den Fotos vom Strand-Urlaub: mein Bruder immer mit Decke im Arm und Daumen im Mund.
Dann die ersten Bücher aus der Bücherei ausgeliehen, dicke Hardcover-Wälzer. Wo sind sie geblieben? Vielleicht erstehen sie jetzt aus makabrem Anlass wieder auf und ersetzen die unsäglichen McBroschüren im Querformat. In meiner Jugend war das Taschenbuch-Äquivalent klein, quadratisch und rot. Viel ging nicht rein, meist nur eine Geschichte. Sie hatte eine Schwarzweiß-Zeichnung vorne drauf und einen gelb unterlegten Titel. Ein Klassiker, so sahen Peanuts-Bücher damals aus, und viele werden sich mit mir dran erinnern. Das war auch die Zeit, wo ich immer mal wieder Schwierigkeiten hatte, mir vor Augen zu führen, dass der amerikanische Außenminister nicht zugleich noch der Zeichner der Peanuts war, obwohl er ebenfalls Schulz hieß. Vielleicht auch mit „t“: Schultz, who knows. Jedenfalls hörte es sich genauso an. Jahre später sah ich klarer, das war schon die Zeit meiner Snoopy-Agendas, die letzten Jahre vor dem Abi. Viel Platz zum Hausaufgaben-Eintragen, ein praktischer Kalender und pro Woche zwei Comic-Strips am Kopf der Doppelseite. Ich hab sie noch. Eins vom Schuljahr ´87/´88 und eins von ´90/´91. Was ich zwischendrin gemacht hab, weiß ich nicht. Keine Hausaufgaben, vermutlich.
Im Peanuts-Universum fühlte ich mich von Anfang an heimisch. Es gab viel wiederkehrende Motive, vom großen Kürbis bis zum Ball-Wegziehen. Das Wort Baseball sprach ich damals noch so, wie man´s schreibt, und wahrscheinlich prägten die Storys auch mein Bild von amerikanischen Suburbs. Ohne je dagewesen zu sein. Bis heute. Halloween und den Valentinstag lernte ich über sie kennen. Auch Marshmellows, Ferienlager, den roten Baron und rotweiß-karierte Tischdecken in französischen Bistros. Amerikanische Briefkästen mit Klappe und Fähnchen, Grammatikwettbewerbe und psychotherapeutische Fast Food-Stände. Der Doktor ist – da. „Woodstock“ war für mich ein gelber Vogel, kein Hippie-Festival. Snoopys Freundin „Belle“ dagegen lernte ich bei einer Schulfreundin kennen, aus Plüsch und mit wechselnder Garderobe. Sie setzte sich nie wirklich durch. Kein Verlust.
Wiederkehrende Motive und fest umrissene Charaktere. Peppermint Patty liebt Charlie Brown, Charlie Brown liebt das kleine rothaarige Mädchen (übrigens eine Reminiszenz an eine unglückliche Liebe Schulz´, die ihn verließ, kaum dass der Strip landesweit in Serie ging), Sally liebt Linus, Lucy liebt Schröder, Schröder liebt Beethoven. Marcie ist ein Mauerblümchen, aber klug. Schröder spielt immer Klavier. Linus kann ohne Schmusedecke nicht leben. Snoopy freundet sich mit Schneemännern an und weint, wenn sie schmelzen. Sally hasst die Schule. Erwachsen kamen in dieser Welt nie vor. Es gab sie, aber man sah sie nicht. Im Fernsehen tönten sie mit gräßlichen Quäk-Lauten aus dem Off. In der Zeichentrick-Version mochte ich die Peanuts fast genauso gern wie im Comic. Ich bleibe dabei: die einzige Toon-Produktion, die in bewegten und unbewegten Bildern gleichermaßen funktioniert! Im TV gab´s zur Einleitung und zwischen den Episoden immer fremdartig anmutendes Geklimper. „Jazz Impressions of A Boy named Charlie Brown“ vom Vince Guaraldi Trio. Charles M. Schulz wollte weg von der üblichen Zeichntrickmusik und beauftragte einen Musiker aus San Francisco, das war das Ergebnis.
Nur ein Aspekt von vielen, der zeigt, wie sehr die Person Schulz das Bild der Peanuts prägte. Er war nicht nur ihr Erfinder, er blieb auch ihr einziger Zeichner, ein Leben lang. Im Comic-Business eine Ausnahme. Es war klar, dass er nie einen Nachfolger bestimmen würde. Vermutlich tut auch deshalb sein Tod so weh. Obwohl es dem Produkt „Peanuts“ nur zugute kam. Es waren sein Humor, sein Stil und seine Sophistication, die für gleichbleibende Qualität bürgten. Auch eine Form der Wiedererkennbarkeit. Und genügend Strips, um sich ein Leben lang durchzulesen, hat er weiß Gott hinterlassen.
Die Peanuts begannen 1948 als „Li´l Folks“, damals noch ziemlich erfolglos und optisch nur entfernt mit den erfolgreichen Nachfahren verwandt. Als Comic-Strip mit Kindern als Protagonisten fielen die „Folks“ übrigens von Anfang an – gemessen an dem, was es sonst so gab – aus der Reihe. Sie waren keine Rabauken und Landplagen wie die „Katzenjammer Kids“ oder Dennis the Menace“. Eltern konnten sie nicht auf der Nase herumtanzen, weil die nicht vorkamen. Bei den „Folks/Peanuts“ ging es leise und irgendwie tragisch zu. Kindsein, das hier eigentlich keins war, war kein Freiflug in unbeschwerte Gefilde, sondern ein Leiden. Wie die Erwachsenenzeit, nur anders. Zurück zum Eigentlichen: „Little Folks“ und „Li´l Abner“ gab es damals schon, und so wurden die wasserköpfigen Knirpse ohne Schulz´ Wissen kurzerhand in „Peanuts“ umbenannt. Heute sind sie der erfolgreichste Comic-Strip überhaupt, seit Jahrzehnten schon funktioniert auch ihre Vermarktung im Merchandise-Geschäft. Am leichtesten zu zeichnen war übrigens, laut Charles M. Schulz, Charlie Browns Kopf, am schwersten dessen Hund Snoopy. Der kam erst 1966 dazu, wenig später beklagte er sich bei einem noch namenlosen (in unverständlichen Strichen sprechenden) kleinen Vogel darüber, dass niemand seine Generation verstünde. Dem Vogel schien es ebenso zu gehen. Die 60er-Jahre waren auch die Zeit, als die Peanuts endgültig zu Pop-Ikonen avancierten. Titel-Stories im Time-Magazine 1965 und im Life-Magazine 1967. Die ersten TV-Filmchen und 1969 dann die Krönung: die NASA tauft das Mutterschiff der Apollo 10-Mission „Charlie Brown“ und das Mondfahrzeug „Snoopy“. Während einer Fernsehübertragung hält einer der Astronauten, auf halbem Weg zum Mond, eine Charlie Brown-Zeichnung hoch. Für Schulz werden alte Buck Rogers-Träume wahr…
Die Peanuts-Welt war eine bürgerliche, überschaubare und ziemlich konservative. Schnell wurde Schulz als Laienprediger der bibelhörigen „Church of God“ geoutet und seine Strips daraufhin flugs ontologisch gedeutet. Überhaupt regten die Peanuts so allerhand Intellektuelle an, sich des Themas anzunehmen, durch welche Brille auch immer. Ein ideologischer Mehrwert also, und ein polyvalenter noch dazu. Neben dem Fußball wurden die Peanuts eines der Massenkultur-Phänomene, an denen sich die Eggheads austoben konnten, ohne vor Trivilität rot zu werden. Ob unter theologischen Aspekten (wenn sich Linus mit dem Problem quält, der ungewollte Bruder seiner Schwester zu sein), soziologischen (die entfremdeten, angepaßten Lucys dieser Welt vs. Charlie Brown, der scheinbar keine Rollenerwartungen erfüllt), philosophischen (Charlie Brown, der Humanist vs. Snoppy, der Hedonist, der seine Tagträume rasch auszuleben begann und in diversen Rollen die Grenze zur Metaphysik überschritt) oder psychologischen (die Linus´se dieser Welt mit ihren emotionalen Krücken vs. Charlie Brown, der sich in keine Neurose flüchtet) – es funktioniert. Wissenschaftler wiesen diverse literarische Trends nach, die sich je nach Aktualität über die Jahre hinweg einschlichen. Von Saul Bellow bis zur Fantasy. Für Umberto Eco („Apokalyptiker und Integrierte“) zählten die Peanuts zum „lyrischen Stil“ wie Krazy Kat: eine schlichte Ausgangskonstellation mit immergleichen Charakteren und Situationen. Ein „Grundschema“ also, dem ein „beständiger Fluß von Variationen“ entspringt mit dem „eigentümlichen Rhythmus primitiver Epen“. Um den Zauber dieser „poésie ininterrompue“ wahrzunehmen, muß man die Serie allerdings schon in gewissem Maße konsumieren, um „drin“ zu sein und die „unablässig wechselnde Wiederholung der Schemata“ als solche wahrnehmen zu können… Die Peanuts waren nur der Anfang. Kaum ein Comic, der mittlerweile nicht zur geisteswissenschaftlichen Spielwiese taugte.
Comicologen sind dagegen Pragmatiker, fast schon Naturwissenschaftler. Für sie fallen die Peanuts einfach unter die Kategorien „Kinder-Strip“ und „Fall Guys“. Das Leben der Winzlinge mag sich innerhalb der bürgerlichen Normen abspielen, aber ihr Held ist kein amerikanischer Selfmade-Erfolgsmensch, sondern ein Verlierer. Kein Donald Duck, über den man sich lustig macht, eher schon eine Identifikationsfigur. Auch, weil Charlie Brown (benannt nach einem Freund Schulz´ von der Kunstschule) nie aufgab. Egal, wie oft der Drache ihn an den Baum fesselt. Egal, wie oft er den entscheidenden Punkt beim Baseball vermasselt. „Die Welt der Peanuts ist ein Mikrokosmos, eine kleine menschliche Komödie, für jeden Geldbeutel erschwinglich.“ (Immer noch Umberto Eco) Sie verkleinert Erwachsenenmythen auf Kindheitsgröße und erfreut uns mit naiven, unschuldigen Exemplaren der jungen Gattung, man könnte noch ewig so weitermachen…
Tatsache ist, dass die Peanuts von einem Fatalismus durchdrungen sind, der mir immer wieder gut tut und komischerweise hilft, nicht zu resignieren. Selten präsentiert er sich als Sarkasmus, eigentlich nie als Zynismus. Die Peanuts bleiben für mich heile Welt, eine dezente Welt, die trotzdem nie unhip wurde. Ich muß aufhören, so getragen zu salbadern, sonst liest plötzlich niemand mehr weiter. Dabei versuche ich doch nur, ein bißchen würdevoll zu klingen, im Angesicht des Todes. Vielleicht sollte ich lieber erzählen, wie sehr mich immer noch fasziniert, was sich in einer Hundehütte alles unterbringen lässt. Fernseher, Maskeraden, Schreibmaschinen und Mobiliar, das größer ist, als sie selbst. Manche Peanuts-Sprüche sind in die Kommunikation zwischen mir und meinem Bruder eingegangen. Wir zwei, eine eigene kleine Subkultur… Wenn einer von uns sagt „Beagles sollten keine Daunenjacken tragen“ oder „Hunde können nicht lesen, hehe“, dann weiß der andere, was gemeint ist. Für alle Zeiten.
Im November 1999 erhielt Schulz seine Krebs-Diagnose. Mitte Dezember kündigte er das Ende der Peanuts-Strips an. Freunde berichten, dass er weinte: das Ende des Traums, ein Cartoonist zu sein. Den Plan, die Peanuts-Serie selbstbestimmt und vor allem noch vor ihm selbst sterben zu lassen, ließ sich nur zum Teil verwirklichen. Die kleinen Toons überlebten ihren Vater um genau einen Tag. Charles M. Schulz starb am 12. Februar 2000. Der letzte Peanuts-Strip war für den Tag darauf vorgesehen, veröffentlicht in allen amerikanischen Tageszeitungen.