Live: Wire

London, Royal Festival Hall, South Bank Centre, 26.2.2000

Gäste:
Immersion (Colin Newman/Malka Spigel)
He Said (Graham Lewis and Friends)
DJ x DJ (Seth Hodder/Daniel Miller)
Michael Clark

Seit 23 Jahren arbeiten Wire konsequent daran, ihr Publikum insoweit zu ‚erziehen‘, dass bloß niemand mit irgendeiner Art von Erwartungshaltung zu einem ihrer Konzerte kommt. So weigerten sie sich Ende der 70er Jahre konsequent, Songs aus bereits veröffentlichen Alben live zu spielen und präsentierten auf der Bühne durchweg neues Material. Nach drei hervorragenden Veröffentlichungen zwischen 1977 und 1979 inszenierte die Band ihr erstes vorläufiges Ende mit einem dadaistisch angehauchten Experimentalevent im Camden Electric Ballroom (als Konserve zu hören auf ‚Document and Eyewitness‘).

Angewidert von der Tatsache, dass viele ehemalige Punk-Bands – wobei Wire niemals in die P-Schublade passten – zu langweiligen Rock-Outfits verkamen, tauchten die Mitglieder der störrischen Viererbande in diversen, zum Großteil brillianten Soloprojekten ab, um sich 1985 als selbstdefinierte Beatcombo neu zu inszenieren. Die EP ‚Snakedrill‘ und das Album ‚The Ideal Copy‘ läuteten eine hochproduktive Phase ein, die mit ‚A bell is a cup until it is struck‘ ihren Abschluss fand. ‚It’s beginning to and back again‘ wies den Weg in zunehmend elektronische Gefilde, wobei sich Schlagwerker Robert Gotobed schlussendlich überflüssig vorkam und die Band 1990 verließ. Nach einem weiteren Album unter dem neuen Logo ‚Wir‘ war dann erstmal Sense, obwohl sich das Trio mit dem wenig beachteten Wirvien-Album 1996 noch einmal kurz zurückmeldete.

Wie pikant dann die Tatsache, dass sich Wire dieses Jahr in der Urbesetzung für die Konzertreihe ‚The living legends‘ (sic) des Londoner South Bank Center zu einem eigentlich als One-Off-Gig angekündigten Konzert anheuern ließen. Und sich zum ersten Mal bereiterklärten, Songs aus ihrer frühen Vergangenheit zu spielen.

Im Rahmen der Vorbereitungen auf den Gig ließ Gitarrist Bruce Gilbert dann im NME verlauten, dass sich die Band ja nie offiziell getrennt hätte (was sind schon 10 Jahre Pause für eine Band, deren Karriere aus fast genau so vielen inaktiven Phasen wie produktivem Zusammenspiel bestand?) und dass man beabsichtige, mit den neuen alten Wire auf Tour zu gehen. Und damit bei dem Gig in Londons hochsubventionierten Betonpalast der schönen Künste am Südufer der Themse (von den Einheimischen immer noch despektierlich ‚South Bonk Center‘ genannt) bloss nichts schiefging, gab es 2 inoffizielle Aufwärmkonzerte in Dublin und Nottingham.

So blieb denn auch beim Londoner Live-Event nichts dem Zufall bzw. – Gott bewahre! – auch nur einem Hauch von Spontaneität überlassen. Pünktlichst um halb 8 begann die Show mit einer halbstündigen Videopräsentation von ‚Wire live im Rockpalast‘. Reichlich Zeit für Nostalgiker, sich die mit finstersten Mienen vorgetragenen brillianten Stücke aus der Ära um ‚Pink Flag‘ und ‚Chairs Missing‘ reinzuziehen. Diverse Konzertbesucher versuchten derweil, im Dunkeln zu ihren nummerierten Sitzplätzen in der regulär für klassische Konzerte vorgesehenen Halle zu finden. Ich saß zum ersten Mal in meinem Leben in einer Loge hoch über dem Geschehen, das während des zweistündigen Vorprogramms bis zum Auftritt von Wire einem wimmelnden Ameisenhaufen nicht unähnlich war. Das Gefühl, einer mit der Stoppuhr geplanten, ohne Herzblut inszenierten Show von Leuten, die von ihrer Cleverness überzeugt sind, beizuwohnen, wollte einfach nicht weggehen.

Viele Besucher hatten nicht das Sitzfleisch, um sich die reichlich enttäuschenden Klang- und Videoausflüge von Immersion im Anschluss an die Geschichtsstunde aus der Vergangenheit des deutschen Fernsehens ohne Pause anzutun. Malka Spigel und Colin Newman hielten es für eine gute Idee, eine halbe Stunde lang mit dem Rücken zum Publikum reichlich ambiente Sound- und Videosamples abzuspielen. Und damit bloss jeder mitbekommt, wie das Projekt heißt, hatten sich die beiden ihr ‚Immersion-Logo‘ auf die Rückseiten ihrer 70er-Jahre-Satinbomberjacken pinseln lassen. Also. Immersion. Immersion. Immersion. Viele, oft wiederhole Bildschnipsel von anfahrenden Zügen, Wänden mit abblätternder Farbe und Plastikgoldfischen (einer von diversen Hinweisen auf das eigene Label ~swim) ergänzten die Sampleloops auf das allerangemessenste. Auf das allerangemessenste. Auf das allerangemessenste. Sicher, man könnte es Immersion gleichtun und den Begriff der ‚Konzeptkunst‘ an den Haaren herbeiziehen. Für den gibt es meiner Ansicht nach aber bereits verdientere Anwärter.

Das ambient bemühte Duo verschwand so wortlos, wie es gekommen war, und jetzt gab es wirklich einen Leckerbissen für’s Auge. Ein Video der androgynen Tänzerin Gunilla Leander mit Musik von Edvard Graham Lewis, gefolgt von einer ebenso erfreulichen Projektion des He Said-Projekts des Wire-Bassisten, der kurz darauf selbst die Bühne betrat und tatsächlich mit seinem Publikum kommunizierte. Das Highlight des Abends in jeder Hinsicht: vielseitig, emotional, elektronisch und zeitgemäß. He Said in seinen diversen Inkarnationen gehört für mich neben Dome zu den besten der zahlreichen Nebenprojekte der Wire-Macher.

Nahtlos gefolgt von DJ x DJ, die einen musikalisch herausragenden Mix von Songs aus ‚The Ideal Copy‘ und ‚Manscape‘ hinlegten. Visuell stelle man sich zwei Leute im Halbdunkel hinter einem DJ-Pult vor, von denen einer (Seth Hodder) die Samples mixt, der andere (Daniel Miller) mit einem Laptop-Computer wahlweise einen, zwei oder drei weiße Punkte auf schwarzem Hintergrund hin und her hüpfen lässt, was dann im Großformat auf die Leinwand über der Bühne projiziiert wird. Damit es auch der Dümmste rafft: dies ist ein Abend der Wiederholungen, Wiederholungen, Wiederholungen. Trotz oder gerade deswegen wäre ich dem Mute-Label-Chef für diese visuelle Zumutung gerne nach drei Minuten bei Straffreiheit an die Gurgel gesprungen. Aber vielleicht hat es bisher ja auch niemand für nötig gehalten oder gewagt, diesen mächtigen Plattenfirmenboss darüber zu informieren, dass solche manirierten Manipulationen schon seit Anfang der 90er très passé, daaahling sind. Trotzdem, die Sounds waren gut genug, eine halbe Stunde die Augen zu schließen.

Und dann, endlich, und passend – ‚How many dead or alive?‘ – mit dem Titelsong von Pink Flag – die lebende Legende (pruuust) kehrt zurück, das Publikum lebt auf bzw. strömt in Scharen zurück in den Konzertsaal. Fernab von jeglicher Elektronik, angetrieben von der präzisen Schlagkraft von Robert, der jetzt nicht mehr Gotobed sondern Grey heißt und hauptberuflich als Bio-Bauer arbeitet, bieten Wire einen Querschnitt durch alles von ‚Pink Flag‘ bis zu ‚A Bell Is A Cup‘. Und Songs wie ‚Silk Skin Paws‘, ‚Strange‘ oder ‚Lowdown‘ klingen erstaunlich frisch und aktuell, was mit Sicherheit zum Teil Bands wie Blur und Elastica zu verdanken ist, welche die Erinnerung an Wire lebendig gehalten haben (Elastica wurden für ihre übermäßig originalgetreuen Anleihen zwar von Wire’s Plattenfirma vor den Kadi gezerrt, aber das ist eine andere Geschichte). Besonders gelungen: eine abgedrehte, neue Version von ‚Heartbeat‘, zu der Ballettstar Michael Clark zusammen mit seinen Kolleginnen Lorena Randi und Kate Coyne einen viel zu kurzen, grandiosen Auftritt hinlegt. Clark wurde in den 80ern als das Wunderkind der Ballettszene gefeiert und kollaborierte mit Lewis und Gilbert. Auch für ihn war der Abend eine ‚Rückkehr aus der Gruft‘, denn um den Tänzer war es aufgrund privater Probleme jahrelang still geworden.

Nach seinem Auftritt war es Zeit für eine weitere Geschichtslektion: ein Video von ‚Snakedrill‘, das Wire bei einem Auftritt in den USA zeigt. Anrührend-komisch die amerikanische Moderatorin im Weibchenlook, deren überschäumende Lebendigkeit auf das Heftigste mit den unterkühlt-smarten Bühnenpersönlichkeiten der Wire-Leute kontrastierte. Das Mini-Interview als Farce. Wie putzig…Und wehe dem, der erwartet hatte, dass die aktuelle, reifere Inkarnation der Band zu einem entspannteren Umgang mit ihrem Publikum bereit (oder fähig?) wäre. Wire arbeiten sich genauso konzentriert und distanziert durch ihren Set wie in ihren Anfangstagen. Zwischenrufe von Fans werden ignoriert, eine Kommunikation findet nicht statt. Und das, obwohl mittlerweile gut 50 Begeisterte vor der Bühne tanzen. Irgendwann hat das Prinzip ‚the medium is the message‘ zumindest für mich seinen Reiz verloren. Wie zu erwarten endet der Abend mit dem Stück, das die Band seit gut 20 Jahren prinzipiell nie live aufgeführt hat – 12XU. Der Kreis hat sich geschlossen, und ich bin mir nicht sicher, ob dies ein Grund zur Freude oder zur Nachdenklichkeit ist. Gerade bei dieser Band fällt es schwer, altes als neues zu akzeptieren. Auch Wire’s Plattenfirma Mute scheint nicht so recht zu wissen, was sie mit dieser Version der Viererbande anfangen soll. So wirbt man im Magazin ‚The Wire‘ (doppelsic) zwar mit Ermäßigungen für alle Scheiben aus dem Backkatalog von Wire, auf der Website des Indiegiganten findet man jedoch nur eine veraltete Bio der Band.

Dass Wire definitv wieder im Musikgeschehen mitmischen wollen, zeigt die Präsenz einer von der Band selbst ins Leben gerufenen Website (www.pinkflag.com), auf der zahlreiche Tourdaten angekündigt sind. Die nächste Dosis Wire pur und ohne Vorprogramm können sich Interessierte vom 26. bis 28. Mai im Londoner Club ‚The Garage‘ reinziehen.

(mo)

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