Zu den erschütterndsten Erfahrungen meiner verblühenden Pubertät gehörte die Erkenntnis, daß ansonsten intelligente Menschen imstande waren, Dummbeutelmusik zu lieben, während personifizierte Dummbeutel durchaus einen akzeptablen Musikgeschmack haben konnten. Diese tiefere Einsicht in die Abgründe des Menschseins erschütterte meine Weltanschauung, nach der Musik generell in sogenannte Hirnmusik und ebenfalls sogenannte Hosenmusik einzuteilen war. Erstere lieferte Futter für die Gedanken und ging nur bisweilen voll in die Hose, wenn z.B. The Taste „What’s Going On“ fragten und immer für einen veritablen Orgasmus gut waren. Hosenmusik indes diente zur Befriedigung niederster Instinkte wie „glücklich sein wollen“, „schunkeln können“ und „mal kurz mit der Kleinen da drüben auf der Toilette eine heiße Nummer schieben“. Ins Hirn fraß sich diese Musik nur selten, nämlich höchstens dann, wenn dort noch die Überreste dessen dahinvegetierten, was wir Liebhaber von Hirnmusik ein kritisches und waches Bewußtsein nannten.
Warum erzähle ich euch das? Nun, weil ich mich soeben durch zwei biografische Werke gearbeitet habe, deren Protogonisten auf exemplarische Weise jene in meiner Spätpubertät so arg demolierte Musiktheorie verkörperten. Hirnmusik – das war natürlich vor allem ER: Frank Zappa. Für die Hose bevorzugte die reifere Dame etwa zur gleichen Zeit den sogenannten „Tiger aus Wales“, Herrn Tom Jones, von dem ich an Gutem nur sagen kann, daß er den Titel „Delilah“ populär gemacht hat, welcher wiederum von der sträflich unterschätzten und an dieser Stelle ausdrücklich ans Herz gelegten Sensational Alex Harvey Band gecovert und bis in die englische Top Ten geführt wurde.
Bringen wir es also hinter uns und beginnen mit „Tom Jones – Der Tiger aus Wales“, einer Biografie der beiden Damen Lucy Ellis und Bryony Sutherland (Hannibal Verlag), deren Erstling „The Complete Guide to the Music of George Michael and WHAM!“ heißt und schon erahnen läßt, in welche Abgründe kritischen Journalismus die Ausbreitung der Tom Jones-Vita führen wird. Zitat: „Eine der unvergesslichsten Episoden (…) war, als der dreizehnjährige Mark (der Sohn von Tom Jones), der immer noch mit viel Babyspeck zu kämpfen hatte, während einer Party mit einem Satz vom Trampolin sprang.“ Bereits die Zurkenntnisnahme dieses in der Tat unvergeßlichen Erlebnisses macht deutlich, in welchen Gefilden sich das Buch über knappe 400 Seiten bewegt: Belanglosigkeiten, Küchensozialpsychologie („Zweifelsohne ist Tom mit seinem unglaublichen Ruhm auf eine Art und Weise umgegangen, die seine Eltern aus der Arbeiterklasse stolz machen würde.“) und Vorlieben des Meisters („Ich liebe das traditionelle walisische Lammessen, aber ich gebe zu, dass mein internationales Leibgericht, das ich jederzeit essen kann, rohe Austern und Muscheln sind, und mein Lieblingsfleischgericht ist Pfeffersteak… und außerdem habe ich für Brains Beer, ein einheimisches walisches Bier, eine Schwäche.“).
So weit so schlecht. Warum ich aber von der Lektüre des Werkes dennoch nicht gänzlich abrate, liegt in jenem unvergleichlichen Gruselkabinett von Spießern, Beutelschneidern, Schleimlingen und sonstigen – wie wir in der Musikbuchkritikbranche sagen – assholes begründet, das sich dem Leser nach und nach erschließt. Wir werden Zeugen, wie Musiker (etwa Gilbert O’Sullivan, der bei Jones‘ Manager unter Vertrag war) betrogen werden, erfahren, daß Jones die Frau nur als Heimchen am Herd oder Geliebte akzeptiert und geraten schließlich an das biggest assface of all: einen Typen namens Engelbert Humperdinck, dessen Visage allein drei Eimer bis zum Rand mit Erbrochenem zu füllen vermag, zu schweigen von seiner Musik, die sich in den Siebzigern unerklärlicherweise gut verkaufte. Wer wie wir in der wunderbaren, progressiven, intellektuellen Hinternet-Welt zu Hause ist, sollte die Chance, auch einmal eine solche Gegenwelt zu sehen, nicht verpassen.
Eine Gegenwelt zu Tom Jones und seiner Biografie zeichnet Carl-Ludwig Reichert in seinem Werk „Frank Zappa“, erschienen als dtv-Taschenbuch zum Preis von 16,50 DM. Reichert, als Journalist und Radiomensch nicht ohne Verdienste, hat gerade einmal 160 Seiten zur Verfügung, um eines der mächtigsten Oeuvres der Popgeschichte abzuhandeln – das muß schiefgehen, denkt man. Und nach den ersten Seiten ist man sogar überzeugt, daß es nicht nur schiefgeht, sondern so krachend katastrophal endet, wie es eines Menschen Kopf sich nur vorzustellen mag. So erfahren wir auf Seite 16 folgendes aus Zappas Jugendzeit: „Er fing 1956 an, mit der Kamera seines Vaters Schmalfilme zu drehen. Sein Erstlingswerk >Motion< war ein Experimentalfilm in der Art eines Werner Nekes.“ In einer Fußnote erfahren wir nun, wer dieser Werner Nekes war – wogegen nichts zu sagen wäre, hätte der Autor 500 Seiten zur Verfügung. Hat er aber nicht, und der Leser ärgert sich über diese Platzvergeudung, zumal er nach der Werner Nekes – Fußnote immer noch nicht weiß, was er mit dieser Querverbindung anfangen soll.
Doch das legt sich. Reichert arbeitet ausgiebig mit solchen Fußnoten und bietet nach jedem Kapitel ein bis zwei Seiten „Materialien“, auf denen er alles Mögliche und Unmögliche zum Zappa-Umfeld ausbreitet. Und irgendwann erkennt man, daß genau diese Vorgehensweise dem Gegenstand Zappa angemessen ist. Zappa selbst war ein Eklektiker, einer, der sich überall bediente, dessen Assoziationsradius nicht begrenzt war. Und Reichert gelingt das große Kunststück, so zu schreiben, wie Zappa zu komponieren pflegte. Auch genauso subjektiv-ehrlich. Wen Reichert für ein asshole hält, heißt bei ihm auch so.
Am Ende der 160 Seiten spürt man zwar, dass mancher Aspekt der Zappa-Vita etwas ausführlicher hätte behandelt werden müssen, doch, was viel wichtiger ist, man hat über den Aufbau des Textes Zugang zu Zappa selbst erhalten. Das ist selten, das ist ein Kunststück, das wollen wir loben.
Doch zurück zu meiner eingangs preisgegebenen pubertären Gedankenwelt. Ich liebte die Musik, und ich haßte alle, die sich an ihr vergingen. Ich weiß noch, daß die erste Platte, die ich mir von eigenem Geld kaufte, eine LP mit Beatles-Hits war. Ich habe diese Platte geliebt. Ich habe ALLE meine Platten geliebt. Einmal bekam ich eines der legendären Schallplattenaufbewahrungsalben aus Plastik samt Inhalt geschenkt. Es befanden sich darin u.a. Werke von José Feliciano („Light my fire“), der 1910 Fruitgum Company und Heino, und ich habe sogar Heino geliebt, weil ich eben eine Platte von ihm hatte. Und natürlich habe ich mich bei der Lektüre von Nick Hornbys „High Fidelity“ genau daran erinnert und konnte nachempfinden, wie sich der Held fühlte, dem diese wunderbare Welt abhanden gekommen ist, obwohl er immer noch glaubt, er lebe in ihr.
Genauso muß es Sky Nonhoff ergangen sein. Und als dann der dtv-Verlag in seiner Reihe „Kleine Philosophie der Passionen“ sich auch der „Schallplatten“ entsann, hat sich Herr Nonhoff gedacht, man könne doch auch einmal schreiben, wie das so war, als man zum erstenmal eine Platte von Suzi Quatro gekauft hat. Und wie dann eben alles sich so entwickelt hat. Wie Suzi Quatro plötzlich Velvet Underground hieß. Und Glamrock plötzlich Punk. Und was man so gedacht hat dabei. Und so gefühlt. Das alles beschreibt Herr Nonhoff ganz nett, und am Ende überrascht er uns mit der unvermeidlichen Liste seiner Lieblingsplatten. Und wir lesen das nicht ohne Wohlwollen. Und legen das Buch aus der Hand und denken uns: Schön. Aber das hab ich alles schon vorher gewußt. Ist uns nämlich allen so ergangen. Müssen wir es tatsächlich nachlesen? Bei Hornby war es lustig und tragisch zugleich, und es packte uns. Bei Nonhoff ist es artifiziell verbrämter Aufguß – nicht schlecht gemacht, aber eben, wie wir ebenfalls in der Musikbuchkritikbranche zu sagen pflegen, nichts weiter als blanker Lesezeitvertreib ohne bleibende Schäden im Gehirn. Hosenliteratur also. Irgendwie.
Mit diesem philosophischen Ausklang verabschiede ich mich bis zum nächstenmal, wenn es wieder heißt: Auch ich war einmal jung.