Fliehkräfte der Liebe
„Ich weiß nicht, ob Menschen überhaupt zu einer umfassenden, den andern als Ganzes erfassenden Liebe fähig sind“, sagt die Schweizer Autorin Sybille Berg über Yael Hedayas ersten Roman „Liebe pur“. „ Das wäre, was für mich das Wort bedeutet: den andern erkennen, Wohlgefallen an ihm haben, ohne Ansprüche und Erwartungen. Kann das jemand? Bitte melden…“ Auch Hedayas zweiter Roman ist eine Liebesgeschichte. „Diesmal geht sie gut aus“, sagt sie selbst. Doch ihre Welt bleibt kühl.
Jede Romanfigur bewegt sich auf ihrer eigenen Bahn, satellitengleich, gefangen im Alltagstrott, verkapselt in Sehnsüchten und unausgesprochenen Erwartungen: ein Kind ohne Mutter, ein Schriftsteller ohne neues Buch, eine Erfolgsautorin ohne Kind. Sie alle sind auf der Suche nach einer Bindung, von der sie nicht wissen, wie sie aussehen könnte. Mißtrauisch, vorsichtig kreisen sie umeinander, selten begegnen sie sich wirklich, eigentlich nur gewaltsam.
„Accidents“ heißt der zweite Roman der israelischen Autorin Yael Hedaya auf Englisch, ein guter Titel. Denn Zufall oder Unfall, so genau wissen die Figuren nicht, wie sie Veränderung, besonders Nähe, deuten sollen. Die zehnjährige Dana wünscht sich nach dem Tod ihrer Mutter für ihren Vater eine neue Frau. Es ist zu schweigsam, zu bedrückend im Haus. Als sie dann tatsächlich in ihr Leben tritt, schwankt Dana – mitten in der Pubertät – zwischen neuem Frauenidol, dem sie nacheifert, und reinem Lustobjekt ihres Vaters, das sie bei aller Neugier irritiert und abstößt.
Sie fühlt sich wie ein fünftes Rad am Wagen und stellt peinlich berührt fest: Überall in der Wohnung riecht es nach Sex. „Nicht einmal ansehen mochte sie den Vater, wenn er mit seinem nackten, gefährlich strahlenden Oberkörper auf dem Sofa lag“, heißt es in Hedayas Roman, „ohne sich seiner neuen Monsterhaftigkeit bewußt zu sein.“ Ihr Vater Jonathan, Mitte 40, ein gefeierter Tel Aviver Schriftsteller, ist von der neuen Liebe selbst überrascht.
Dana zuliebe hat er vor Wochen eine Selbsthilfegruppe für verwitwete Männer besucht, obwohl sein Entschluß feststeht: Er will sich auf keinen neuen Menschen einlassen, und wenn, ohnehin nur auf eine Zwillingsseele, „stürmisch, geistig brilliant und unvorhersehbar“ wie er selbst – eine Illusion, ungefährlich also. Trunken vom Erfolg seines Erstlingswerks, des Romans „Lust“, und zugleich gehemmt von einer Schreibblockade, hat er sich das Korsett eines unverstandenen Witwers und Künstlers geschneidert. Widerwillig, mehr, um die Form zu wahren, nimmt Jonathan trotzdem Einladungen zu arrangierten Blind-Date-Essen von Freunden an. Dabei lernt er Schira kennen, den Shootingstar der Tel Aviver Literatenszene.
Auch sie leidet unter einer Schreibkrise, quält sich mit ihrem zweiten Buch, leidet unter Perfektionsdrang. Ihren Romanerfolg sieht sie eher als „Kind des Zufalls“ und ihre Beziehungen bisher als gescheiterte, flüchtige Vorformen von Liebe. Zu den arrangierten Blind-Date-Essen geht sie inzwischen mit einer fast diebischen Vorfreude, den aufgetriebenen Single der Freunde abzulehnen. Diesmal irrt sie: Jonathan gefällt ihr gefährlich gut.
Yael Hedaya erzählt wieder eine Dreiergeschichte, allerdings tragen ihre Figuren jetzt Namen, und statt eines Hundes taucht jetzt ein Kind auf. Das Kind allerdings ist nicht das Gegenstück zur Bindungsangst des Paares wie in „Liebe pur“, sondern selbst wie Schira und Jonathan zerrissen zwischen der „Angst, daß es etwas daraus würde“ und „der Angst, daß nicht.“ Die beiden Schriftsteller werden ein Paar auf Probe, das Patchwork-Familien-Experiment beginnt – in einer Stadt, wie sie passender nicht sein könnte.
Tel Aviv wirkt auf Schira „herrlich normal und sehr selbstbezogen, als begegnete sie individuellem Leid mit kollektiver Respektlosigkeit, ohne daß man ihr dafür böse sein konnte“. Schira sieht die Stadt als eine „Art Metronom, das auch zu einer schwermütigen Melodie fröhlich und unbeirrt vor sich hintickte“.
Auf elliptischen Bahnen bewegen sich Hedayas Figuren aufeinander zu und entfernen sich wieder – eine Art Satellitenliebe. Anstrengend ist jede Annäherung und langwierig, ein mühsames Aufschließen des inneren Käfigs, skeptisch, immer bemüht, die eigene Fassade zu wahren. Schließlich heißt Liebe für Schira und Jonathan zunächst nur: Abhängigkeit, Beklemmung, das Ende des Schreibens. So sinnlich der gegenseitige Reiz auch ist: Die Fliehkraft bleibt stärker als die Schwerkraft.
„Zusammenstöße“ heißt auch der Roman im Roman, mit dem Schira in Tel Aviv ihren Debuterfolg feierte: die Geschichte einer Liebe, die sie selbst gern erlebt hätte. Ein Mann und eine Frau begegnen einander nach Autounfällen nachts in der Notaufnahme und fühlen sich im Gespräch plötzlich „wie zwei Kinder, die sich gegenseitig zunächst scheu ihre Sammelkarten zeigen, bis sie feststellen, dass sie genau dieselben besitzen.“
Ähnlich gewaltsam sind die Einschnitte, die die Hedayas Figuren tatsächlich verändern: der Unfalltod der Mutter, der Ehefrau, der Tod der eigenen Eltern. Bevor Liebe ohne Bedrängnis möglich wird, stehen Abschiede bevor, die die drei Charaktere letztlich aus ihrer Erstarrung befreien. Dana entdeckt die eigene Sexualität und bemüht sich nicht mehr, andern zu gefallen, zum „Auswahlteam“ der Klasse zu gehören. Jonathan gibt das Schreiben auf, unterrichtet stattdessen als Dozent in Jerusalem, und Schira wünscht sich ein Kind von ihm.
Hedayas Roman liest sich wie eine Fortsetzung zu „Liebe pur“, wie eine Analyse nicht nur schmerzender, sondern auch heilender Bindungen. Ihr zweites Buch ist eine 750 Seiten füllende Studie über die Einsamkeit, das Heranwachsen und Älterwerden, über Sterben, Abschiednehmen und Neubeginn – allerdings im Gegensatz zur lakonischen Sprachgewalt ihres Debuts diesmal ausgedehnt, zerfasert, verloren oft in Detailepisoden, in den Lebenssträngen ihrer Figuren. Vielleicht liegt es daran, dass die Identifikation mühsamer gelingt als bei Mann, Frau und Hund in „Liebe pur“.
Wer ein Fan von Hedayas präziser, seismographischer Prosa ist und Ähnliches erwartet, wird enttäuscht. „Liebe pur“ war ein kurzes, schonungslos sezierendes Meisterwerk über das Elend der Liebe. Seine Stärke lag in der Konzentration auf eine gnadenlos zulaufende Geschichte, erzählt mit einer Mischung aus Melancholie und Brutalität – ein nüchterner Abgesang auf den Selbstbetrug und das Mißtrauen in der Liebe. Etwas dieser Erzählkraft ist noch in „Zusammenstöße“ spürbar, immer dann, wenn die israelische Bestseller-Autorin Banalität in Tragödie verwandelt, Unbedeutsamkeit in Traumatismus, Offensichtlichkeit in Intensität.
Zu den beeindruckendsten Kapiteln des neuen Romans etwa gehört Schiras Abschied vom ihrem sterbenden Vater. „Wie schutzlos doch unsere Eltern im Alter unseren Blicken ausgeliefert sind“, denkt sie im Krankenzimmer. Erbärmlich und grimmig wirkt ihr alter Vater am Tropf, im Bett am Ende „wie ein Baum an einem Wintertag, klein, fahl und dennoch tapfer“. In Schira wächst plötzlich die Angst, die Welt draußen könne zu ihnen hereinsickern.
Eine stille Spannung herrscht im Raum, ungekannt, eine unaufgeregte Begegnung ohne Worte, eine Nähe ohne Bedingungen. Schira wundert sich, wie klar doch der letzte, alles endende Augenblick ist: „Der Tod schien das Material, mit dem er arbeitete, gut zu kennen, er verrichtete seine Arbeit treffsicher und nuancenreich, verfranste sich nicht in endlosen Formulierungen, war frei von Widersprüchen und Selbsthaß.“ Der Tod ist keine Künstlernatur, denkt sie: „Der Tod ist ein hochprofessioneller Handwerker.“
Ein Satz eines Emily-Dickinsons-Gedicht, den Yael Hedaya immer wieder zitiert: „After great pain a formal feeling comes“, trifft nicht nur auf Schiras Gedanken am Bett ihres sterbenden Vaters zu, sondern vor allem auf Hedayas sehr eigene Art zu schreiben – eine poetische Stärke. Nichts rückt den Leser distanzloser an das Erlebte.
Yael Hedaya:
Zusammenstöße
Diogenes, 751 Seiten, € 24,90