Weihnachten gilt als das Fest der Liebe und der Vergebung. Zeit, um über unser aller Verhältnis zu den Plattenfirmen, geliebte Dealer oder verhasste Industrie, nachzudenken. Zeit, zu vergeben? Zeit für eine E-Mail an Thomas M. Stein, Tim Renner und Kollegen mit einem herzlichen Sorry für alle die gebrannten CDs und die klammheimliche Freude über Umsatzrückgänge?
Die Antwort ist nein. Denn ein Blick auf die alljährliche Liste der CD-Veröffentlichungen rund um das Thema Weihnachten zeigt: Die Branche hat nichts, aber auch gar nichts dazugelernt. Von einer gewissen Zurückhaltung in der Veröffentlichungspolitik keine Spur, statt dessen wurden wie jedes Jahr stumpfsinnige Slogans kreiert, Material aus den tiefsten Untiefen der Archive recycelt und große Künstlernamen auf Teufel komm raus mit dem Event Weihnachten verknüpft. Als wenn es die Umsatz- und Ideenkrise nicht geben würde.
Es lohnt sich, das Grauen näher zu betrachten. Die Reise durch die Kataloge – berücksichtigt wurden nur Neuerscheinungen, deren Titel entweder das Wort Weihnachten oder Christmas enthalten – beginnt am 29. September, 40. Kalenderwoche. Barry Manilow macht den Anfang mit einem „Weihnachtsgeschenk der Liebe“ („A Christmas Gift Of Love“), freundlicherweise von Sony Music nach Deutschland importiert.
Manilow, das passt. Eine Woche später, am 6. Oktober, setzt die BMG Ariola Miller programmatische Grundsätze und veröffentlicht unter anderem zwei Compilations: „Süße Tradition – Weihnachten daheim“ tröstet alle Opfer der Rezession und suggeriert, dass es nicht jedes Mal zu Weihnachten der Trip nach Hawaii sein muss, und empfiehlt statt dessen: „Zeit zum Kuscheln – Weihnachtsträume“. Praktischer Englisch-Unterricht kommt dagegen von der Klassik-Schmiede Deutsche Grammophon: „The Christmas Album – Das Weihnachtsalbum“ heisst das Album von Rita Streich und Maria Stader und schenkt allen Englischmuffeln unter uns eine neue Vokabel.
In der 44. Kalenderwoche, wir schreiben den 27. Oktober, halten sich Licht und Schatten, Katastrophe und Musik die Waage: Der SMIS, Sony Musics Import Service, veröffentlicht „Christmas With Johnny Cash“ und Merle Haggards „Goin’ Home For Christmas“ – beides verspricht zumindest Qualität. da music kontert mit „Uwe Hübners Hitparade präsentiert das Weihnachtsparadies“ und der Indie-Vertrieb Soulfood lässt die „Weihnachtstänze aus dem Dudelsack“ (!) raus. Länger drüber nachzudenken, verbietet sich. Außer Konkurrenz, aber aufgrund des grandiosen Titels eine Erwähnung wert: Elmo & Patsy mit „Grandma Got Run Over By A Reindeer“ (SMIS/Sony Music).
Eine Woche später nimmt das Grauen seinen Lauf: Alive lädt zur „Christmas Karaoke Party“ und fordert „Christmas With The Stars“ (der richtige Soundtrack für post-suizidale Momente unterm Tannenbaum?) und Schlager-Major Koch Music bringt auf einer CD „Fröhliche Weihnachten, Schlager und Volksmusik“ dank einem selten intelligenten Compilation-Titel zusammen. Auch das Nockalm Quintett fehlt nicht, beim Album „Wiener Sängerknaben Goes Christmas“ (EMI) sollten zumindest leichte Zweifel an der Grammatik erlaubt sein. Ein frühes Highlight für alle Tauben und Debilen: „Zo Weihnachte bei uns en Kölle“ von Colör, verbrochen vom Label Dabbelju im Vertrieb von Alive.
„Crazee“ begrüßt uns die 46. Kalenderwoche: Der nicht weiter erwähnenswerte Mini-Vertrieb Harris wirft „Slade’s Crazee Christmas“ auf den Markt, zugleich mit „Instant Xmas Party“ und „Instant Xmas Party 2“. Auf der VÖ-Liste findet sich außerdem an gleicher Stelle die Compilation „A Swining Christmas“ (!) – wobei hier fairerweise zu hoffen ist, dass sich lediglich der zuständige Content-Manager des Branchenblättchens „musikwoche“ beim Eintippen vertan hat und ein „g“ verschluderte.
In den nächsten beiden Wochen werden nacheinander Wolfgang Petry, Roger Whittaker, Richard Clayderman, Bing Crosby, Helmut Lotti und Cliff Richards Weihnachtsplatten in die Regale der Kaufhäuser und Plattenläden. Für die ganz harten Weihnachtsjunkies hält EMI „Weihnachten mit Anneliese Rothenberger“ bereit und Delta Music beweist mit dem „Vatican Christmas Concert“ (?) Nähe zum Papst.
Wie ein weiterer Blick auf den Veröffentlichungsplan verrät, ist Ende November das schlimmste überstanden: Am 1. Dezember reiht sich André Rieu mit „Merry Christmas“ in die Reihe der „CDs, die die Welt nicht braucht“ ein und am 8. Dezember tuen die Bläck Fööss mit „Kölsche Weihnacht“ das gleiche.
8502 Minuten – 141 Stunden – sechs Tage – wer es noch genauer wissen will, findet anbei die Chronologie der alljährlichen akustischen Umweltverschmutzung.
Amnesty International, bitte melden!