Bonn

„Politgroupie“, spottet der Chefredakteur, als ich vor dem Stahlzaun stehe und den Flachbau betrachte. Zwei Flachbauten, genauer gesagt. Ein großer, weiter hinten. Und ein kleiner, weiter vorn. Eher eine Art Pförtnerhaus, in dem immer noch Herren über das Rolltor wachen, das den Weg zu den zwei schwarzen Klötzen freigeben soll. In meinem Kopf schwirrt ein ganz anderes Wort. Das einzige, das einem an diesem Ort, vor diesen Klötzen und dem Zaun stehend, einfallen kann: Krisenstab. Mit vielen I´s: Kriiiiiiiiiiiiiiiisenstab. Hier hat er getagt, im heißen Herbst 1977, zwischen Zigarettenschwaden und Cola-Gebizzel. Denn dies hier ist das alte Kanzleramt. In Bonn am Rhein.

An diesem Nachmittag im April 2005 sieht´s allerdings eher aus, als wäre Schichtwechsel bei irgendeiner Wurst- oder Schraubenfabrik. Männer in Jeans und Anoraks strömen mit ihren Arbeitstaschen aus dem Rolltor heraus. Wie Mitarbeiter des Wirtschaftsministeriums sehen sie nicht gerade aus – auch wenn das große Baustellenschild verkündet, dass das MWZ (oder so) hier gerade baut. Ach so: vielleicht sind es auch die Bauarbeiter. Das käme hin.
Egal. Die haben´s gut. Die sind einem weiteren Flachbau ganz nahe, den ich vor der Reise verzweifelt versucht habe, im Internet zu orten. Erfolglos, übrigens. Und dass er hier auf dem gleichen Gelände ist, erfahre ich erst viel zu spät: der Kanzlerbungalow. Mein Traumhaus. Bauhausstil, Barcelona-Pavillon, Sep Ruf. Das Haus der Geschichte hat ihn sich gerade angeeignet und wird ihn irgendwann auch öffnen. Aber nur für Gruppen.
Also weiter. An einem diesigen Dienstagnachmittag, im Epizentrum der Langeweile. Zumindest optisch: denn diese zwei, drei Ministraßen sehen – außer den auffälligen Baulücken – aus wie das klassische Wohnviertel, in dem pubertierende Insassen nur auf den nächsten Hofgang und die Gelegenheit zur Flucht warten können. Aber hier haben ja keine Pubertierende gewohnt. In den Baulücken der Dahlmannstraße standen mal die Korrespondentenbüros der Zeitungen und Fernsehsender. Die Deutsche Welle ist immerhin noch da, um die Ecke. Und der Gebäudeschlauch in der Parallelstraße, gegenüber eines pittoresken, wie aus den 60ern übriggebliebenen Kiosks, das ist von links nach rechts: Bundesrat, alter Bundestag, neuer – mittlerweile auch längst veralteter Bundestag. Der immerhin ist jetzt ein Kongresszentrum, für Besucher nur wochenends geöffnet. Der freundliche Pförtner lässt mich wenigstens mal von der Lobby durch die Glastür ins Innere starren. Bin verwirrt. Sieht eher aus wie eine Mischung aus Turnhalle und Amphitheater.
Ist aber wirklich ein Kongresszentrum. Denn eine Freundin hat uns noch vor der Fahrt berichtet, wie sie mit ihren Computerfirmakollegen hier eine Veranstaltung hatte. Ein Kollege sollte eine Rede halten. Und aus organisatorischen Gründen wurde die dann doch noch kurzfristig verlegt: von einem Nebenraum ins frühere Plenum. Der Kollege soll bei dieser Meldung sehr blass geworden sein.
Musste er nicht. Denn hier war der Bundestag nur noch von 1992 bis 1990. Als sein Bonner Ende schon beschlossen war. Den alten gibt´s nicht mehr. Dadrin sitzt jetzt wohl die UNO. Und ich davor: auf den Stufen vor der Schrift „Bundestag“, denn die klebt da immer noch, und da muss ich mich doch mal für ein Erinnerungsphoto in Pose setzen.
Langer Eugen, Wasserwerk, Schürmannbau, Palais Schaumburg, Villa Hammerschmidt, Gästehaus Petersberg – wir sind den ganzen „Weg der Demokratie“ abgeschritten. Und schaffen den Rückweg auf der Rheinpromenade nur noch jammernd und mit platten Füßen. Trotzdem: man muss es mal gesehen haben. Das große Nichts, das Provisorium, die Provinzhauptstadt, das Sammelsurium aus zweckentfremdeten und angebauten Behausungen, die ab 1949 gar nicht wussten, wie ihnen geschah.