Die „atmosphärische Dichte“, sagte ich in Lektion 14, vollbringe in Boris Akunins Roman „Pelagia und der rote Hahn“ das Kunststück, selbst ein für sich nicht „realitätskompatibles“ Handlungselement so zu integrieren, dass es kompatibel wird.
Doch „atmosphärische Dichte“ ist ein nebulöser Sammelbegriff; gerne genommen (auch von mir, ich gebe es zu), selten so expliziert, dass man wüsste, worum es eigentlich geht. Einige zufällig zusammengegoogelte Beispiele mögen dies verdeutlichen:
Sabine Reiss auf der → „Krimi-Couch“ fragt sich und andere ebenfalls, was das denn sei, „atmosphärische Dichte“ und kommt für sich zu der Antwort:
„(…)ich kann mich ganz in die Geschichte vertiefen, sie packt mich.“
Nämliche Sabine schreibt allerdings in einem →anderen Forumsbeitrag:
„Wer gerne Krimis liest, in denen kaum etwas passiert und die gern mit dem Schlagwort „atmosphärische Dichte“ beschrieben werden, der wird seine Freude an dem sympathischen Ermittlerduo haben.“
Der „Buchladen in Buch“ rezensiert Simenons „Die Marie vom Hafen“ u.a. mit →folgenden Worten:
„Auffällig ist die atmosphärische Dichte der Romane von Simenon. Weit über das bloße Lokalkolorit hinaus wird das Wesen einer Umgebung erfaßt, ihr Stimmungsprofil, ihre psychosoziale Temperatur.“
Einer →Besprechung von Mankells „Mittsommermord“ entnehmen wir dies:
„Dennoch ist die atmosphärische Dichte dieses Krimis bemerkenswert. Dazu tragen die besonders kaltblütigen Morde bei, aber auch Wallanders gesundheitliche Probleme und vor allem der Verdacht, dass sein ermordeter Kollege Svedberg in den Fall verstickt gewesen sein könnte.“
Der Begriff bleibt also vieldeutig, und tatsächlich ist „atmosphärische Dichte“ zuallererst ein vom persönlichen Geschmack modelliertes Kriterium zur Beurteilung der Qualität eines Textes. Mancher Autor erreicht sie durch die detaillierte Wiedergabe einer Landschaft, einer Situation – berühmte Beispiele hierfür sind Fenimore Coopers „Lederstrumpf“ und Melvilles „Moby Dick“ -, was für den Einen tatsächlich die Atmosphäre verdichtet, für den anderen jedoch schlicht langweilig ist.
In einem Krimi bedeutet „atmosphärische Dichte“ naheliegenderweise, wie sich Spannungsbögen entwickeln. Uns interessiert, wie die Geschichte weitergeht, wie sie endet, welches Schicksal die Personen finden werden usw. Idealerweise ist diese Atmosphäre mit der topografischen gekoppelt, ein Phänomen, dessen einfachste Variante das berühmte Gewitter darstellt, das unfehlbar auf Schloss XY stattfindet, wenn der Mörder wieder zuschlägt.
Ebenfalls weit verbreitet ist die „psychosoziale Atmosphäre“, siehe als verkaufsträchtigstes Beispiel Mankell, bei dem die Befindlichkeit des Protagonisten mit der der ihm umgebenden Gesellschaft korrespondiert.
In all diesen Fällen jedoch hängt es nicht nur von der Kunst des Autors, sondern auch von der Erwartung des Lesers ab, ob eine Atmosphäre als dicht empfunden wird oder nicht.
Wenn wir nicht genau sagen können, WAS eigentlich die „atmosphärische Dichte“ ist, so vielleicht, was sie bewirkt. Auf jeden Fall muss sie etwas Positives sein, etwas, das uns in den Roman hineinzieht und dafür sorgt, dass wir bis zu seinem Ende – und vielleicht auch darüber hinaus? – in ihm bleiben. Ganz neutral formuliert: Je dichter die Atmosphäre eines Romans, desto perfekter wird er zum RAUM, zum Dreidimensionalen, in das man uns Leser, die wir ansonsten nur über den Roman hinweglesen würden (und somit das Zweidimensionale nicht verließen), zieht.
Kommen wir zurück zu Akunin, dessen neuestes Werk „Die Bibliothek des Zaren“ ich soeben aus der Hand gelegt habe. Kein schlechter Krimi – für schlechte Krimis schreibt Akunin einfach zu gut – aber „die Atmosphäre“? Weniger dicht als sonst.
In „Die Bibliothek des Zaren“ arbeitet Akunin mit einer Zeitleisten-Technik, wie wir Crime School – Insassen sie von Indridasons Roman „Todeshauch“ kennen. Er schildert die Story auf zwei zeitlichen Ebenen: Die erste macht uns mit Nicolas Fandorin bekannt, der im Hier und Jetzt nach Moskau reist, um eine mysteriöse handschriftliche Anweisung seines Vorfahren Kornelius von Dorn zu vervollständigen, die auf einen unermesslichen Schatz verweist. Die zweite schildert uns eben das Schicksal dieses von Dorn im Russland des 17. Jahrhunderts und wie er in den Besitz des Schatzes gelangt.
Obwohl die abwechselnd erscheinenden Episoden beider Zeitleisten sowohl motivisch als auch topografisch aufeinander bezogen sind, gelingt es Akunin nicht wie Indridason, beide zu einer Atmosphäre zu verdichten. Die Fallhöhe zwischen beiden Ebenen ist einfach zu groß, es bleibt ein Bruch.
Und genau hier kommt unsere „Realitätskompatibilität“ ins Spiel. In „Pelagia und der rote Hahn“ ist diese Atmosphärenverdichtung so perfekt geraten, dass sie selbst Unrealistisches in sich bergen kann – „Die Bibliothek des Zaren“ macht es uns hingegen schon schwer, die dort vorgeführten Personen des „neuen Russland“ für halbwegs authentische Abbilder der Wirklichkeit zu halten.
Woran liegt das? Vielleicht daran, dass „atmosphärische Dichte“ schlichtweg bedeutet, dass der Leser einen Raum vorfinden muss, dessen „literarisch-chemische Beschaffenheit“ durch ein genau berechnetes Mischungsverhältnis verschiedener Elemente entstanden ist, analog zur Luft, die wir atmen müssen, um im Raum Wirklichkeit überleben zu können? Die Atmosphäre irgendeines Jupitermondes mag dichter sein – für unsere Realität indes ist sie tödlich. Besitzen auch Bücher – Krimis insbesondere – einen solchen Lebensraum mit einer exakt austarierten Atmosphäre? Eine spannende und weitreichende Frage, der wir uns in der nächsten Lektion ausführlich widmen wollen.
Bis dahin: Hier ist wieder Gelegenheit, Meinungen kundzutun, Fragen zu stellen, zu kritisieren.