Crime School: Lektion 14

„Realitätskompatibel“ sollten Krimis sein. Schlägt Bernd jedenfalls vor und übersetzt „kompatibel“ mit „verträglich“. Schlecht für alles, was in der Realität nicht vorkommt, Übersinnliches etwa, weil es sich nicht mit der allgemeinen Vorstellung dessen was wirklich sei, vereinbaren lässt.

Dem könnte ich zustimmen, wenn ich nicht im vorigen Jahr einen Roman des sehr fleißigen und guten Boris Akunin gelesen und sogleich mit allerhöchsten Weihen ausgestattet hätte. „Pelagia und der rote Hahn“ heißt der Krimi und ist Abschluss einer Trilogie um die detektivische Nonne Pelagia im Russland des ausgehenden 19. Jahrhunderts.

Die beiden ersten Bände des Pelagia-Dreiers sind zweifelsohne „realitätskompatibel“, wenn es nicht jemandem in den Sinn käme, etwas exzentrische Charaktere als fernab der Wirklichkeit einzuordnen. Nein, in diesen beiden Büchern hat nicht nur alles seine Ordnung, die Ordnung wird auch hergestellt, die Fälle werden gelöst, nichts bleibt uns schleierhaft oder findet seine Erklärung im Übersinnlich-Phantastischen.

Dann aber „Pelagia und der rote Hahn“. Ohne jetzt auf den Inhalt eingehen zu wollen (wer will, tue dies →hier), sei doch eine Szene genannt, die das bedenkliche Infaltenlegen der Stirn des nüchternen und auf die Allmacht des Faktischen bauenden Lesers provoziert.

Pelagia, auf Mördersuche, erforscht eine abgelegene Höhle. Kaum unter der Erde, muss sie gewahren, dass irgendein Ereignis (ein natürliches?, ein von böser Hand veranlasstes?) den Eingang der Höhle zugeschüttet hat. Pelagia sitzt in der Falle. Doch da der Roman noch einige hundert Seiten vor sich hat, gelingt es unserer Nonne natürlich, einen zweiten Ausgang zu finden, der ihr sogar einen Blick auf den verschütteten Eingang erlaubt.

Und was sie da erblickt, kann nicht sein. Just die Szene nämlich, da ein Bösewicht einen Erdrutsch provoziert, der die Nonne anscheinend unrettbar in der Höhle gefangen halten wird. Seit diesem Ereignis sind aber nun schon mehrere Stunden vergangen – wieso also wird die Nonne Zeugin eines Geschehens aus der Vergangenheit?

Zurück in der Bibliothek des Bischofs, findet sie ein Buch, das das Phänomen erklärt. „Besondere Höhlen“ gäbe es, die „die körperliche Welt mit der nicht körperlichen“ verbinden, und jede Seele gehe zweimal durch sie hindurch: bei Geburt und Tod. Weiter heißt es, manchmal komme es vor, dass in solche Höhlen auch Seelen gerieten, die noch nicht zum Sterben vorgesehen sind. Diese seien dann „zwischen den Welten, wo die Zeit nicht fließt, (in intermundis ubi non est aemanatio temporis), gefangen, und er kann solcherart für alle Ewigkeit verschwinden oder in eine andere Zeit und sogar in eine andere Besondere Höhle geworfen werden.“

In eine Zeitmaschine ist die gute Nonne also geraten, und das klingt nicht nur schwer SF-mäßig, sondern ist, selbst wenn das erklärende Buch tatsächlich existieren sollte (wird wohl), ein ziemlich unrealistischer Schwurbel – nicht kompatibel mit allem, was uns unsere Schulweisheit einflüstert.

Ohne zu viel zu verraten, sei erwähnt, dass der Schluss des Romans wiederum mit einer „Besonderen Höhle“ zu tun hat und derart böse ins Mystisch-Christliche abschwurbelt, dass bekennende Agnostiker wie ich das Ding normalerweise wütend gegen die Wand werfen. – Was ich aber nicht getan habe. Und das hat seinen Grund.

Vielleicht hätte ich dieses Abdriften ins Mythisch-Übersinnliche auch bloß wegen der fulminanten Erzählkunst Akunins akzeptiert. Thema des Romans ist die Sekteninflation im Russland des späten 19. Jahrhunderts, das Sich-Flüchten in religiöse Heilswelten und die sehr reale Heilswelt des „Gelobten Landes“, in das auch Pelagia aufbricht, um ihren Fall zu lösen. Sie ist in bester Gesellschaft. Die ersten Kibbuzim sind schon dort, auch eine Gruppe Homosexueller, die dort eine Stadt namens Sodom gründen wollen, um in Ruhe leben zu können.

In einer solchen Atmosphäre findet das „nicht Realitätskompatible“ plötzlich eine Schnittstelle zur Wirklichkeit. Es verdichtet diese Atmosphäre zu einem Bild, auf dem all das zu sehen ist, was an seelischer Grundstimmung sonst nicht zu beschreiben ist – oder als Beschreibung einfach nicht in die Dramaturgie des Romans passen würde. Das Schicksal der Pelagia, welches sich durchaus auf eine von nüchternen Ist-Menschen unakzeptable Weise erfüllt, macht Sinn vor dem Hintergrund ihrer psychischen Verfassung, ihrem Schwanken zwischen der Einmischung in die Welthändel und ihrer eigentlichen Bestimmung, die nicht von dieser Welt ist.

Somit haben wir es mit einem merkwürdigen Tatbestand zu tun: Etwas zunächst nicht mit der Realität zu Vereinbarendes wird im Laufe der Handlung doch mit dieser Realität kompatibel. Die Handlung entwickelt eine Logik, an der selbst das Unlogische andocken kann. Beide Teile interagieren wie ein Computer und ein mit ihm kompatibler Drucker. Zwei Welten – eine Aufgabe.

Akunins Entscheidung für den Einsatz realitätsferner Motive ist eine rein künstlerische. Sie negiert die Diktatur der Physik zu Gunsten der Erfordernisse eines literarischen Werks. Daran wollen wir in der nächsten Lektion anknüpfen. Bis dahin: Seid fleißig (3. Ebene!) und mailt hier , was immer euch auf dem Herzen liegt.

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