David Peace: 1974 (die Alternativ-Rezension)

(Achtung! Die nachfolgende Rezension gibt nicht die Meinung des Rezensenten wieder!)

David Peaces „1974“ gehört in mancherlei Hinsicht zu den ärgerlichsten Erscheinungen des bisherigen Krimijahres. Belobhudelt, mehr oder weniger verklausuliert gepriesen, von den „Experten“ der „Krimi-Bestenliste“ als Hype der Saison auf Rang 1 gehievt.

Die Geschichte von Edward Dunford, Gerichtsreporter für das nördliche England, nimmt keine Rücksicht auf die sensiblen und durch jahrelanges Lesen höherer Literatur domestizierten Geschmacksnerven seiner Leser. Kleine Mädchen werden brutal ermordet, ein Bau- und Korruptionsskandal scheint damit verknüpft, Leeds und Umgebung sind trostlos, seine Einwohner verzweifelt oder zynisch, brutal oder hilflos, wahrscheinlich alles zusammen. Gewalt regiert, die Säfte fließen, unser Held ist so weit entfernt von einem Helden, wie es weiter nicht sein kann, am Ende überschlagen sich die Ereignisse, alles wird gut, das heißt: Alles wird noch schlechter.

Noir? Hard boiled? Ekelerregend? Natürlich. Meinetwegen. Vor allem aber: ein Werk, das verharmlost, aus dem es moralinsauer tröpfelt, das von seiner krimidramaturgischen Konstruktion hanebüchen daherkommt, aufgesetzt und auf den vordergründigen Effekt hin in Szene gesetzt.

Beginnen wir mit dem Hier und Jetzt der Handlung. Yorkshire, 1974, das sind klare Ansagen. Doch was bietet Peace? Zeichnet er ein Gemälde dieses Ortes, dieser Zeit? Nichts weniger. Wie auch immer die Lebensumstände in Yorkshire im Jahre 1974 gewesen sein mögen – wir erfahren es nicht. Stattdessen erhalten wir ein aus Variationen der Unfarbe Schwarz zusammengeschmiertes Stück erzählerischer Leinwand, alles ist böse, alles hoffnungslos, alles schlecht.

Logischerweise sind auf diesem Bild die handelnden Personen als Charaktere nicht zu erkennen. Wir können, mit etwas Mühe, die ganz Bösen von den weniger Bösen unterscheiden, zu letzteren gehört auch der Protagonist Dunford, der, wann immer ihm ein schrecklicher Gedanke kommt, sogleich loskotzt. Dieses Kotzen ist quasi die moralische Soße, die sich über den Text ergießt. Es ist eine fürchterliche, weil eindimensionale, nicht reflektierte und nicht reflektierende Moral. Wir werden mit der Unmoral konfrontiert und haben die gefälligst zum Kotzen zu finden. Das war’s.

Verharmlosend. Man schneidet einem Schwan bei lebendigem Leib die Flügel ab und näht sie auf den Rücken eines ebenfalls noch lebenden kleinen Mädchens, dessen Vagina zuvor mit dem Stiel einer Rose malträtiert wurde. Ein Zigeunerlager brennt, die Polizei steht grinsend daneben. Die Mutter eines der verschwundenen Mädchen springt auf, schreit „Ich liebe dich! Ich liebe dich! Ich liebe dich!“, bloß weil Eddie Interesse daran bekundete, das Schicksal ihres Kindes aufzuklären. Dann gehen sie miteinander ins Bett, die Mutter spricht von ihrem Kind, Eddie vollzieht den Akt wie eine nüchterne Buchhalterarbeit (eine der großartigsten Szenen des Romans). Später nötigt er die Frau zum Analverkehr, bis das Blut fließt. Und so weiter, keine Differenzierungen, keine Tiefe.

Alles ist eins. So wie das Personal allenfalls amöbiale Funktionen hat, so ist auch das Grauen vom Alltäglichen nicht zu trennen. Das wäre immerhin eine interessante These, wenn sie nicht mit der großen Schaufel auf die Seiten geschippt worden wäre, so plakativ, so erschlagend, so undurchdringlich. Man nimmt es hin – oder nicht. Kein anderer Weg ist möglich.

Und der Krimi selbst? Ich gestehe, dass ich es auf den letzten Seiten aufgegeben habe, die Schuldigen auseinander zu halten. Irgendetwas mit Bauspekulationen hatte es wohl zu tun, die mit Gewalt in die Handlungsführung gezwängt worden sind, weil es heutzutage zu einem „kritischen Krimi“ dazugehört, auch die Großkopfeten zu geißeln. Wer hat wen ermordet und warum? Keine Ahnung. Es hat mich auch nicht mehr interessiert.

„1974“ ist das Paradebeispiel eines völlig überbewerteten Krimis, dessen Sprache vorgibt, „literarisch“ zu sein (dabei werden stets nur die gleichen Muster wiedergekäut; am Anfang interessant, sehr schnell jedoch ermüdend. Schnelligkeit als Mäntelchen für erzählerische Kurzatmigkeit). Diese Sprache wohl auch ist es, neben der schieren Brutalität, die unsere Kritiker hat zu Kreuze kriechen lassen. Über einen solchen Roman schreibt man nichts Schlechtes, zumal wenn der Vorgänger-Rezensent es auch nicht getan hat. So baut sich Hype auf. Schade, Schande.

(Diese Rezension dient ausschließlich dem Ausbau der Meinungsvielfalt. Sie ist negativ, weil alle anderen positiv sind. Sie wäre positiv, wären alle anderen negativ.)

David Peace: 1974. 
Liebeskind 2005, 384 Seiten, 22 €

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