Authentisch?

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Romane sind fiktiv, und manche beruhen auf Tatsachen, sind in ihrer Wurzel „authentisch“. Doch sind sie damit auch schon „wahr“?
Die in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts veröffentlichten „Causes célèbres et intéressantes“ des französischen Juristen Francois Gayot de Pitaval sind der Proto- und Archetyp jener Sammlungen von „wahren Kriminalfällen“, die seither einen eigenen Zweig im Geäst des Krimis ausbilden. Pitaval sah sich durchaus als Lehrer des Volkes, in dem die dargereichten wahren Geschichten reinigenden Schrecken verbreiten sollten. Die „Authentizität“ stand im Dienste der Belehrung, das schlechte, aus dem Leben gegriffene Beispiel, wird passgenau in die Leben der Leser verpflanzt, eine Art moralischer Herzschrittmacher.

Friedrich Schiller, der eine Auswahl der Pitavalschen Sammlung herausgegeben hat, nennt seine Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ im Untertitel „Eine wahre Geschichte“ – was richtig ist und falsch zugleich. Tatsächlich basiert Schillers Erzählung auf Begebenheiten, die man dem „Sonnenwirt“, einem im Schwäbischen wütenden Räuberhauptmann, nachsagte. Und schon da wird es interessant, denn schon hier bekommt das scheinbar „Faktische“ seinen fiktiven Anstrich. Wer hat hier was „nachgesagt“? Wer formuliert die Quintessenz der Taten des „Sonnenwirts“ und werden damit die „Fakten“ nicht schon „Fiktion“, weil, wann immer Wirklichkeit transportiert wird (sei es mündlich, sei es schriftlich), die Last den Gegebenheiten des Beförderungsmittels zu folgen und sich ihnen anzupassen hat?

Und dann: „Eine wahre Geschichte“ ist ein Widerspruch in sich. Entweder ist etwas wahr – oder eine Geschichte. Oder: Die Wahrheit hört dann auf, wenn sie Geschichte wird, oder: Die Geschichte ist ihre eigene Wahrheit. Oder: Wirklich sind nie die Fakten, wirklich ist die Art und Weise ihrer subjektiven Wahrnehmung.

Wie Pitaval stand auch Schiller im Dienste einer höheren, moralischen wie ästhetischen Wahrheit. Die verbiegt man, wenn es der Sache hilfreich ist, die auch „Aufklärung“ heißen kann, aber selten ohne Manipulation auskommt, weil sich das Tatsächliche nicht um Philosophie und ihre Axiome kümmert.

Der Sache diente auch die Idealisierung tatsächlich gelebt habender Gesellen à la „Sonnenwirt“, wie sie die sogenannte „Schund- oder Kolportageliteratur“ seit dem Ende des 18. Jahrhunderts betrieb. Außer der Tatsache dieses Gelebthabens und dem Umstand, dass wirklich am x.x.x. im Ort Y. die Tat Z. geschah, ist alles erstunken oder erlogen. Sagen wir besser: So frisiert, dass es das Abenteuerbedürfnis eines Publikums befriedigte, dem an der Wahrheit so sehr gelegen war, dass es sie in ihrer unwahrsten Form akzeptierte, denn Lügen haben vielleicht kurze Beine, aber bestimmt machen sie kurze Weile.

Weiter in der Literaturgeschichte. Edgar Allan Poes „Das Geheimnis der Marie Roget“ beruft sich auf den authentischen Fall der Ermordung einer gewissen Marie Rogers. Indem Poe die Fakten wie ein Kriminalbeamter gewichtet und wertet, glaubt er den Täter überführen zu können. Er benutzt also das Faktische, um es fiktiv zu vollenden. Dass auf Grund der Poe’schen Detektivarbeit der Mörder von Marie Rogers nicht identifiziert wurde, sei nur am Rande erwähnt. Wahr an der Geschichte wäre höchstens, dass es so gewesen sein könnte. Eine aus Fakten destillierte Hypothese.

Es kam – schlecht für Poe, gut für uns – anders. Die ersten beiden Teile der länglichen Erzählung erschienen im Oktober respektive November 1842 in der Zeitschrift „Ladies’ Companion“, die Veröffentlichung des dritten und abschließenden war für Januar 1843 geplant. Doch just nach Teil 2 gestand eine Frau, dass Marie Rogers bei einer Abtreibung verstarb. Poe verschob die Veröffentlichung des dritten Teils und arbeitete diese „authentische“ Lösung als Alternative zur „fiktiven“ in die Geschichte ein. Fiktion sind sie beide, und innerhalb des Texte stehen sie quasi gleichberechtigt nebeneinander, eine so möglich wie die andere, eine so unmöglich wie die andere.

Poe begründete mit dieser Arbeit eine Tradition, in die Truman Capotes „Kaltblütig“ ebenso gehört wie, ganz aktuell, →Eoin McNamees „Blue Tango“. Eine interessante Variante dieses Musters lieferte Bill Moody in „Auf der Suche nach Chet Baker“. Sein Held, ein Jazzpianist, nutzt ein Engagement in Amsterdam, um den mysteriösen Umständen des Todes der Jazzlegende Baker nachzuspüren. Unfall oder Mord? Die Frage wird nicht beantwortet, und das eigentlich „Kriminelle“ spielt sich in der Rahmenhandlung ab.

Eine dritte Spielart des Gebrauchs von Authentischem im Krimi beherrscht bis zur Obsession James Ellroy. Seine Interesse für Kriminalfälle hat einen tragischen autobiografischen Hintergrund, denn Ellroys Mutter wurde das Opfer eines bis heute nicht ermittelten Mörders. Die Beschäftigung mit ähnlichen Fällen führt ihn immer wieder zu diesem traumatischen Ereignis zurück und zugleich zur Quelle seiner schriftstellerischen Kreativität. Das Nüchtern-Faktische als ein dunkler Tunnel zurück in die eigene Biografie. „Stephanie“, die Geschichte eines wahren Mordfalls, in Ellroys jüngster Sammlung „Endstation Leichenschauhaus“ veröffentlicht, zeigt, wie sich der Autor von den Fakten eines an einer ihm Unbekannten begangenen Verbrechens zu gleichermaßen sentimentaler wie besessener Emphatie für das Opfer berauschen lässt. Er hat Stephanie nicht gekannt, er hat seine Mutter nicht gekannt. Er schreibt, um Stephanie kennenzulernen, er schreibt, um seine Mutter kennenzulernen. Er sucht nicht den Täter, er sucht das Opfer.

Diese Tour de Force durch die Geschichte und die Spielarten des Authentischen im Krimi vermag dessen Bedeutung und Aktualität nur anzutippen. Drei Neuerscheinungen liegen gerade vor mir beziehungsweise sind angekündigt, die die Palette erweitern: Christian von Ditfurths „Das Luxemburg Komplott“, eine Fortführung seiner „Was wäre wenn“- Krimis, „Der Büchermörder“ von Detlef Opitz, das die Geschichte des manischen Büchersammlers und Pfarrers Johann Georg Tinius ausbreitet (und auch formal sehr interessant zu werden verspricht), und schließlich Horst Bosetzkys „Die Bestie vom Schlesischen Bahnhof“, die Story eines Berliner Frauenmörders.

Wie mit solchen „authentischen Fällen“ umgegangen wird, verrät eine Menge über die Art und Weise, wie Schriftsteller allgemein mit Wirklichkeit verfahren. Sie ist einmal Mittel zum Zweck und wird diesem angepasst, sie beflügelt die Phantasie oder dient als ideales Betätigungsfeld des analytischen Geistes, sie kann aber auch, wie bei Ellroy, den kreativen Prozess selbst als einen traumatischen reflektieren. Immer jedoch gilt: Sobald sich die Wirklichkeit in der Schriftform wiederfindet, ist sie eine andere geworden. Und genau das ist die Absicht, genau dafür gibt es Literatur.

Eine interessante Untersuchung könnte der potentiellen Möglichkeit gelten, ob und wenn ja inwieweit die Fiktion die Wirklichkeit verändert. Ist etwa die Sprache des Roman-Polizisten inzwischen in den Polizeialltag vorgedrungen? Sieht sich jeder Hamburger Kommissar zur Schwermut verpflichtet, weil es Herr Mankell so will? Gibt es einen Harry, gibt es einen Wagen? Ist in das Authentische längst das Fiktive vermengt, das einst aus dem Authentischen geboren wurde? War es jemals anders?

Ein Gedanke zu „Authentisch?“

  1. „Eine interessante Untersuchung könnte der potentiellen Möglichkeit gelten, ob und wenn ja inwieweit die Fiktion die Wirklichkeit verändert“:

    Ein kleiner Lektürehinweis dazu: In

    David Schmid: Natural born celebrities: Serial Killers in American Culture. Chicago, IL: University of Chicago Press 2005 —

    finden Interssierte ein Kapitel darüber, wie das FBI im Zusammenwirken mit der Populärkultur (Literatur, True Crime etc.) die Definitionshoheit über Kriminalität und Kriminelle erlangte.

    Nicht viel Neues, aber eine spannende Zusammenfassung.

    JL

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