Versionen des Fiktiven

Aus gegebenem Anlass (schauen Sie mal →hier ins Inhaltsverzeichnis) habe ich am Wochenende in der neuesten und 101. Ausgabe der ehrwürdigen „Saarbrücker Hefte“ geblättert und bin an einem Artikel hängengeblieben. Hans Horch rollt in seinem Beitrag „Antiskepsis oder: Vom Zweifel am Zweifel. Nachbetrachtungen zum Saarbrücker Kinderschänderprozeß“ noch einmal die Geschichte des Mordes an Pascal auf, jenes Jungen, der von einem „Kinderschänderring“ brutal vergewaltigt und ermordet worden sein soll. Die Leiche wurde bis heute nicht gefunden.

Der Prozess wurde bundesweit beachtet, vor allem das Urteil gegen die Angeklagten erregte die Gemüter. Jene nämlich, sämtlich Angehörige der „Unterschicht“, einige das, was man „geistig zurückgeblieben“ nennen könnte, wurden freigesprochen. Man konnte ihnen die Tat einfach nicht nachweisen, was indes den Richter nicht davon abhielt, in seiner Schlußbemerkung zu verstehen zu geben, er halte das Konstrukt der Staatsanwaltschaft trotz seiner Unbeweisbarkeit für schlüssig.

Inzwischen gibt es zwei Bücher zum Thema, eines vom ehemaligen Chefreporter der Saarbrücker Zeitung, Dieter Gräbner, eines von Gisela Friedrichsen, der früheren Gerichtsreporterin des „Spiegel“. Während Gräbner eher der Linie der Staatsanwaltschaft folgt, kommt Friedrichsen zu einem völlig anderen Ergebnis. Sie hält die Freisprüche für den einzig logischen Schluss, spart nicht mit Kritik an der Staatsanwaltschaft und am Richter. In seinem Aufsatz stellt sich Horch auf die Seite Friedrichsens, deren Beweisführung er für lückenlos und schlüssig hält.

Setzen wir für einen Augenblick voraus, dieser Fall sei fiktiv und von zwei verschiedenen Autoren in Sprache gesetzt worden. Dann hätten wir zum einen die Version der nach allerlei Pannen durch das Netz der Rechtsprechung geschlüpften Täter (an deren Schuld der Autor indes keinen Zweifel lässt) und zum anderen die Version eines Justiz- und Gesellschaftsskandals, in dem Menschen, nur weil sie „unterschichtig und geistig minderbemittelt“ sind, in für sie nicht mehr zu überschauende, schon gar nicht zu bewältigende Zwangslagen geraten. In dieser Version gäbe es zwar ein „happy end“, den Freispruch, jedoch nur zum Preis einer völligen Zerstörung der Existenz.

Diesen beiden Fiktionen würde gegenüberstehen, was wir „die Wahrheit“ nennen: die tatsächlichen Ereignisse der Ermordung. Diese Wahrheit ist bislang unbekannt und wird es möglicherweise bleiben, d.h. ein einziger, vielleicht ein Gruppe kennt sie: der oder die Täter. Sollten sie sich jemals bekennen oder ermittelt werden, wäre damit zu rechnen, dass Autoren sich des Falles aufs Neue annähmen, um ihn wieder in völlig unterschiedlichen Versionen zu fiktionalisieren. Doch selbst wenn das nicht geschähe: „Die Wahrheit“ ließe sich nur als ein von Autoren ersonnener Text beschreiben, der Text einer Ermittlung, eines Strafprozesses, von Plädoyers, Kommentaren, inszenierten Bildern etc.

Das alles ist bekannt. Interessant scheint mir indes die Frage, ob es denn einen Unterschied gibt zwischen der Fiktion, der keine Kenntnis der wesentlichen Tatsachen (X. hat Pascal zum Zeitpunkt Y aus der Motivation Z heraus ermordet und an einem bestimmten Ort versteckt) zugrunde liegen und der zweiten Fiktion, die über diese Kenntnisse verfügt. Welche dieser Fiktion ist wahrhaftiger – und welche Version innerhalb dieser Fiktionen? Die einzige befriedigende Antwort, die mir dazu einfällt: Am wahrhaftigsten ist immer die am besten geschriebene Version, das größte Kunstwerk in der Auswahl.

Aber… ja, genau: die Wahrheit, das Faktische, die Wirklichkeit. Nur die Versionen der zweiten Fiktion bringt uns das, was doch eigentlich interessiert: den oder die Täter, den Tathergang – die Gewissheit. Mag sein. Aber am Fiktiven ist selten das am wesentlichsten, was sich am wenigsten interpretieren lässt. Die Fiktion liebt nicht die Fakten, sie liebt die Strategien, das Faktische ins Unendliche zu zerlegen. Da hält sie es mit der Wirklichkeit.

dpr

Literatur:
Verein Saarbrücker Hefte e.V. (Hrg.): Saarbrücker Hefte Nr. 101, Sommer 2009. Die saarländische Zeitschrift für Kultur und Gesellschaft. Saarbrücken (Pfau Verlag) 2009. Darin: Hans Horch: „Antiskepsis oder: Vom Zweifel am Zweifel. Nachbetrachtungen zum Saarbrücker Kinderschänderprozeß“, S. 11-15
Gisela Friedrichsen: Im Zweifel gegen die Angeklagten. Der Fall Pascal – Geschichte eines Skandals. Deutsche Verlags-Anstalt 2008. 238 Seiten
Dieter Gräbner: Pascal. Anatomie eines ungeklärten Falles. Gollenstein 2008. 279 Seiten

3 Gedanken zu „Versionen des Fiktiven“

  1. Die Wahrheit, lieber Thomas, ist ganz einfach die, dass einem kleinen Jungen etwas Schreckliches widerfahren sein muss. Es gibt einen / mehrere Täter, es gibt ein Motiv… Aber sobald es darum geht, darüber zu urteilen, uns ein Bild zu machen, beginnen wir Versionen zu basteln und geraten ins Fiktive. Das Recht basiert auf Fiktion und produziert Fiktion.

    bye
    dpr

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