Übersetzer ungekürzt

Unter dem Titel „Foreign Crime Fiction: The Translators Unedited“ äußern sich in der →neuesten Ausgabe von „Crime Time“ neun Übersetzer / Übersetzerinnen von Krimis in einem „roundup“ zu den schönen und weniger schönen Seiten ihres Berufes.

Dabei u.a. der Glauser-Transporteur Mike Mitchell und Mary Tannert, die (zusammen mit Henry Kratz) 1999 die bemerkens- und lesenswerte Anthologie →„Early German and Austrian Detective Fiction“ herausgegeben hat; bemerkenswert unter anderem deswegen, weil die meisten der dort versammelten Autoren (Adolph Müllner, Otto Ludwig, Adolf Streckfuss, Auguste Groner, Maximilian Böttcher, Balduin Groller) in ihrer Muttersprache höchstens noch antiquarisch zu haben sind.

Ein Zitat: „After all, Germany and Austria are cultures that have given us some of the world’s finest literature – Goethe, Schiller, Thomas Mann, Rainer Maria Rilke, Günter Grass – how could they have simply forgotten to produce any great detective stories?“ Tja, wie wohl. Und Grass ersetzen wir natürlich durch Arno Schmidt.

5 Gedanken zu „Übersetzer ungekürzt“

  1. Vor mir liegt, als angeblätterte, aber ungelesene Kopie:

    Otto Ludwig: Der Todte von St.-Anna’s Kapelle. Ein Criminalfall. Nach Acten und brieflichen Mittheilungen erzählt von Otto Ludwig. In: Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1840. Neue Folge. Zweiter Jahrgang. Mit dem Bildnisse Felix Mendelssohn’s. Leipzig: F. A. Brockhaus 1840, S. 289-421.

    Der Text scheint sich, was die Darstellung von Ermittlungen und Verfahren, aber auch die Selbstreflexion des Erzählens angeht, an Müllners „Der Kaliber“ zu orientieren. Aber nicht deshalb komme ich hier auf ihn zurück, sondern weil er selbst so etwas wie ein kriminalistisches Rätsel darstellt: Lt. Eintrag im ZVAB ist sein Autor ein gewisser Otto Ludwig Emil von Puttkammer, der unter dem Pseudonym O. L. publizierte. Mir scheint es zweifelhaft, daß er sich bewußt und hochstaplerisch am Namen des berühmteren Kollegen vergriffen hätte, der um 1840 noch nichts wesentliches publiziert hatte (1813-1865, „Der Erbförster“, Dr., UA 1850, „Zwischen Himmel und Erde“, E, 1856, „Heitheretei und ihr Widerspiel“, E, 1857).

    Zum latenten Kriminalfall scheint dies erst geworden zu sein, als die Hg. der ersten O.-L.-Werkausgabe die St.-Anna-Erzählung zunächst aufnahmen, dann ihres Irrtums gewahr wurden und den entsprechenden Band einstampfen lassen mußten (alles nach ZVAB). Wären wir noch in den 1960er Jahren, könnte man daraus ein kleines, verkaufbares Rundfunkfeuilleton machen. Heutigentags bescheren wir den Hg. der Criminalbibliothek damit zum Neuen Jahr.

  2. Interessant, lieber JL,

    ich hoffe, Sie halten mich mit Ihren Lektüreerkenntnissen auf dem Laufenden. Pseudonyme sind tatsächlich eine verzwickte Sache bei den Kriminellen des 19. Jahrhunderts. Ich hab da gerade einen sicheren Benno Bronner, hinter dem sich Wilhelm Molitor versteckt, ein deutscher Geistlicher, der im Vatikan arbeitete. Sein „Krimi“ ist eher eine Krimipersiflage und offene Kirchenwerbung. Unverzichtbares Zeitdokument! Tja, da hätte man ein Nachtprogramm draus machen können, damals, als der gute Alfred Andersch einem noch 1800 Mark dafür hingeschoben hat. Heutzutage…wirklich…ein Fall für die Criminalbibliothek!

    bye
    dpr

  3. ich weiß nicht, lieber dpr, ob Sie diesen Text goutieren würden: er schildert ganz ohne Psychologie die Ermittlungen und das Strafverfahren nach einem Leichenfund, in dem die geschiedene Ehefrau des Toten die Hauptverdächtige bzw. Angeklagte ist. Es sieht so aus, als hätte Puttkammer die zahlreichen Veröffentlichungen aus linksrheinischen Geschworenenverfahren (nach 1820) genommen, ausgewertet und ihnen einen banalen Fall unterlegt, in dem zwei Geschichten möglich sind: Mord oder Selbstmord. Anders als bei Müllner kann der Fall durch die Indizien (die eben beide Geschichten stützen) nicht gelöst werden, vielmehr muß ein Zeuge kurz vor Ende des Verfahrens (und dem möglichen Justizmord) auftreten und Klärung bringen. Doch während bei Müllner die Konflikte nach dem Freispruch bleiben (und über Literatur wenigstens sichtbar gemacht werden müssen/können), sind sie bei Puttkammer so personalisiert, daß sie gelöst erscheinen. Der Irrtum der ersten Ehe führt in die zweite (freilich auch zur Auswanderung).

    Wohl doch nicht für die CB (sofern die ‚heutige‘ Leser ansprechen soll).

  4. Das ist ein Grundsatzproblem, lieber JL,

    soll die CB dem Leser im heutigen Sinne „spannende“ Geschichten liefern oder einfach nur dokumentieren, wie sich die Strategien der Krimiautoren über die Jahre entwickelt haben? Ich denke, ersteres wäre zu kurz gesprungen. Was nicht heißt, es gäbe keine spannenden Geschichten…aber die Intentionen waren, vor Poe und Conan Doyle mit ihrem durchgestylten Detektionismus, doch andere, nicht selten aufklärerische. Und erzählerisch ja durchaus in der Tradition der Zeit. Heißt: Das soll dokumentiert werden, aber wir freuen uns natürlich, wenn wir wirklich ungewöhnliche Stories ausgraben können. Eine hab ich wieder mal: einen Kurzkrimi von Temme, der sprachlich und thematisch verblüffend dem „noir“ ähnelt. „In einer Brautnacht“ heißt er und soll dem interessierten publico baldmöglichst an die Hand gegeben werden.

    bye
    dpr

  5. Temme war, das darf man nie vergessen, ein hochgebildeter Jurist und gehörte, bis er 1848/50 abestraft und -gesägt wurde, zur preußischen Elite seiner Zunft, der sich in den Berliner Hitzig-Kränzchen genau so zu bewegen wußte wie in der Paulskirche. (Hitzig ist beläufig auch so einer, der bis heute sträflich unterschätzt wird.)

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