Jerome Charyn: Marilyn the Wild

Anlässlich des Erscheinens der Taschenbuchausgabe wiedergelesen und wieder faszinierend: Jerome Charyns „Marilyn the Wild“. Wem das alte Schwarz und Weiß und Gut und Böse der schlichten Genregesetzgebung zum Halse heraushängt, findet hier sein Referenzwerk.

Isaac Sidel ist der schützende und strafende Gott der Bronx. Ein Bulle, vor dem sie zittern, weil er Recht und Vollstrecker zugleich ist, einer, bei dessen Umarmung niemand weiß, ob sie ein Geste der Zärtlichkeit oder der Vernichtung sein soll. Man zittert vor ihm; man ruft ihn um Hilfe an; man wünscht ihm den Tod; man verehrt ihn maßlos.

Wenige versuchen, aus dem Sidel-Kosmos zu fliehen: Seine Tochter Marilyn etwa, die Wilde, gerade mal wieder frisch geschieden und in Manfred Coen verknallt, den getreuen und so unwiderstehlich blauäugigen Helfer des Vaters. Oder der Bruder, der wegen nicht geleisteter Unterhaltszahlungen im Gefängnis sitzt und gerne dort bliebe, weil ihn das wenigstens ein wenig vor Isaacs fürsorglicher Willkür schützt.

Und dann, unvermutet, gerät dieses Universum des jüdischen Polizisten Sidel in Turbulenzen: Ein jugendliches Trio, die „Lollipops“ genannt, provoziert den allmächtigen Gott der Lower East Side. Seine Freunde und Bekannten erhalten unerwünschten Besuch und werden zusammengeschlagen, schließlich gar Isaacs Mutter schwer verletzt. Man fordert ihn heraus, und er nimmt den Kampf auf.

Das klingt nach einem Polizeikrimi, hart und realistisch, Sidel und seine bizarre Gefolgschaft fährtensuchend und am Ende fündig, Rätsel gelöst, Ordnung wiederhergestellt. Weit gefehlt. Was in der Häuserschluchten der Bronx, dem jüdischen Viertel insbesondere, beginnt, abstrahiert sich allmählich zu einer Parabel eben jener Wirklichkeit und generiert wiederum diese Wirklichkeit. Aber die Bodenhaftung bleibt erhalten, es gibt eben nicht nur keine Unterscheidung von Gut und Böse, es gibt auch keine zwischen dem Leben und den Ideen, die es erschaffen.

Gangster können moralisch sein; Gesetzeshüter die schlimmsten Feinde des Gesetzes; Freundschaft wirkt destruktiv, Hass und Liebe werden in dem Moment eins, wo eine selbstgebastelte Bombe explodiert.

„Marilyn the Wild“ funktioniert als Krimi, weil sein Autor über die Sprache verfügt, die widersprüchlichsten Elemente zu einem Organischen zu verbinden. Es funktioniert als verstörendes Bild des Zusammenlebens von Menschen, weil es Wirklichkeit erklärt, indem es sie abbildet und abbildet, indem es sie erklärt. Dass dabei auch zwischen Tragik und Witz nicht mehr zu unterscheiden ist, versteht sich von selbst.

Jerome Charyn: Marilyn the Wild. 
Rotbuch 2005. 206 Seiten, 9,90 €

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