Und die Moral von der Geschicht: Du kannst aus diesem Leben flüchten, wohin du willst; es holt dich ein. Sagt Didier Daeninckx in seinem Krimi „Statisten“. Eine bittere Erkenntnis? Eine tröstliche.
Valère Notermans ist Jedermann. Seiner Frau und ihres leeren Geschwätzes überdrüssig, seines Jobs ebenso, sucht er einen Ort, an den er flüchten kann, und findet das Kino. Wann immer ihm danach ist, fährt er auf obskure Filmfestivals in der französischen Provinz und versenkt sich mit seinesgleichen in die wunderbare Weltferne der reinen Filmkunst. Da trifft man Leute, deren Lebensinhalt sich im listenmäßigen Erfassen aller Statisten des „Ben Hur“-Films erschöpft, man schwelgt im Abseitigen, das, weil abseitig, exklusiv ist und von Kennermund in Kennerohr geraunt wird.
Eines schönen Tages entdecken Notermans und einige Gleichgesinnte obskure Filmrollen im Fundus eines Flohmarkthändlers. Was sie sehen, fasziniert: Ein großes, labyrinthisches Haus mit vielen Zimmern, in diesen Zimmern Frauen, die grausam getötet werden. Die Atmosphäre ist sensationell dicht, meisterhaft, die schauspielerische Leistung der Statistinnen verblüffend. Doch woher stammt der Film? Wer hat ihn gedreht? Und wo und wann? Notermans macht sich auf die Suche. Ein Detektiv im Niemandsland der Liebhaberei und Obsession, so scheint es.
Doch je weiter Ermittler Notermans der wirklichen Welt entrückt, desto näher kommt er ihr, und am Ende findet er sich auf ihrer dunkelsten Seite wieder. Aus den Zelluloid-Gestalten werden Menschen, aus den Posen Schicksale, aus den winzigen Welten des Films die mächtigen des Daseins.
„Statisten“ ist KEIN explizit Anticineasten-Krimi, ebenso wenig wie etwa Charles Willefords „Ketzerei in Orange“ ein Antikunst-Krimi und nur das zu nennen wäre. Wie alles Gute aus der Abteilung noir liefert er eine Parabel, aus der sich viele Konkreta generieren lassen. Die einen flüchten ins Kino, die andern lesen Häkelkrimis. Diese spielen Fußball (und kümmern sich einen Dreck darum, unter welchen Bedingungen die Bälle produziert werden), jene vergraben sich in den Details eines Details eines Details. Was Daeninckx sagen will: Macht nur. Ihr entkommt der Wirklichkeit nicht. Irgendwann werdet ihr unter dem Dreck, den ihr so geflissentlich aus dem Wege schippt, begraben werden.
Eine noch gedrängtere Form dieser Aussage gibt es in der angehängten Kurzgeschichte „Der Mann mit der Sammelbüchse“. Du bist unpolitisch? Je nun. Wenn du zum falschen Zeitpunkt am falschen Ort bist, hilft dir das nichts. Dann schlägt sie dich buchstäblich tot, die Wirklichkeit, zu der du nicht gehören willst.
Und, Anmerkung: Für so etwas braucht Daeninckx gerade einmal 120 Seiten. Geht also. Geht gut.
Didier Daeninckx: Statisten.
Assoziation A (noir) 2005. 120 Seiten, 9,90 €