Nachtgedanken -2-

Das mit den Definitionen ist so eine Sache. Zu behaupten, „noir“ sei 1929 entstanden, ist das eine (siehe → hier ); daraus zu schließen, „noir“ habe seit 1929 genau diese und jene Charakteristika, würde jedoch bedeuten, Literatur nicht als lebendiges, sich ständig veränderndes Wesen wahrzunehmen. Und davor wollen wir uns hüten. Nein, alles hat sich entwickelt, alles entwickelt sich, geht vor und zurück; Kriminalromane, die nach Schablonen entstehen, sind allenfalls harmlose Unterhaltung, Autoren, die neben sich „Gesetzbücher“ stapeln wie sonst nur Juristen, wären besser Juristen geworden. Und selbst denen genügt das gedruckte Wort selten allein.

Wer aus Dashiel Hammetts „Rote Ernte“ die Abwesenheit von Moral herausliest (weil es sie in einer Welt buchstäblich jenseits von gut und böse nicht geben kann), wird Moral bei Chandler wiederfinden. Wenn auch – in der Person Marlowes – als einen gekapselten, in der Welt wie ein Fremdkörper wirkender Wert, den eine Watte aus Zynismus und Lakonie vor dieser Welt beschützt.

Ja, wer, da ja die Welt weder gut noch böse sein kann, von einem „noir“ erwartet, er verzichte auf die Behauptung, die Welt sei schlecht – der wird bei der Zurkenntnisnahme dessen, was zu 90% als „noir“ etikettiert ist, eines Besseren belehrt. In dieser Hinsicht hat man weder Hammett noch Chandler noch Willeford wirklich verstanden. Genau dieses Jammern wurde überwunden, „Rote Ernte“ markiert den Beginn einer sehr nüchternen, distanzierten, emotionsarmen und daher illusionslosen Weltsicht, die eben nicht depressiv daherkommt oder mit der Intention, das Böse aus der Welt zu vertreiben.

Nehmen wir nur die merkwürdige Distanz zwischen Autor und Personal. Sie entspricht so gar nicht der gängigen Ansicht, ein Autor habe seine Figuren „zu lieben“. Aber für ihn sind sie Objekte in einem höheren Spiel, entindividualisiert und eigentlich im Wortsinn charakterlos. Oder die Sprache. Die ist nicht mehr „poetisch“, nicht ausladend, auf die Zeichnung von Ambiente und Gefühlswelt aus. Sie ist knapp. Treffend. Benennend. Ende.

Am wichtigsten jedoch: Der wahrhaft „schwarze Krimi“ beschreibt uns die Welt als ewiges Räderwerk, eine Inszenierung, bei der all der aufgewirbelte Dreck am Ende wie in Schwerstarbeit zusammengesetzte falsche Schönheit daherkommt. Das Recht siegt. Alles geht wieder seinen Gang.

Und jetzt kommen wir zu Jodokus Donatus Hubertus Temme. Das war, man sollte es wissen, ein Mann von Recht und Ordnung und Gesetz, den man nach 1848, als es nicht gut um Recht und Ordnung und Gesetz in Deutschland bestellt war, piesackte, verfolgte und schließlich außer Landes trieb, in die Schweiz, wo er seine Familie unter anderem durch das Verfassen von Criminalromanen und –erzählungen ernähren musste, die dann in der „Gartenlaube“ und anderen deutschen Familienblättern veröffentlicht wurden. Auch „In einer Brautnacht“ könnte dort, vielleicht unter einem anderen Titel, erschienen sein; ich weiß es noch nicht. Jedenfalls beginnt mit dieser Erzählung ein Band „Criminalnovellen“ Temmes aus dem Jahr 1873.

Und was einen daran zunächst verstört, ist die Sprache. Kurz. Knapp. Ohne Schnörkel. Viele Absätze. Drei Menschen in einer Kutsche steigen in einem ländlichen Gasthof ab, zwei davon, ein betrügerisches Ehepaar, um die dritte Person zu ermorden und zu berauben. Diese, Caroline Wild, ist mitsamt ihrer erklecklichen Barschaft unterwegs zum Bräutigam, um endlich Hochzeit zu machen.

Drei Personen also, zwei erkennbar böse, eine erkennbar gut. Doch wie sie agieren, wie sie der Autor auf Distanz hält, das nimmt ihnen sofort alle Attribute. Wir befinden uns mitten in einer emotionslosen Aktion der großen Maschine Leben. Zwei machen ihre Arbeit, es ist eine Arbeit wie jede andere auch, es ist das Töten, und die dritte ist das Opfer, auch sie spielt ihre Rolle und entkommt ihr nicht. Kein moralisches Bewerten findet man hier, der Leser „geht nicht mit“, er verfolgt einfach, was da passiert. Dann erscheint auch noch der Bräutigam – er hat soeben eine Andere geheiratet – er könnte die betrogene Braut retten – er tut es nicht – die Dinge nehmen ihren schrecklichen Lauf.

Und werden noch gesteigert. Denn auch „das Gute“, das Tröstliche und Happyendige taucht auf, in Gestalt der beiden Wirtskinder, die das böse Treiben durchschauen und ihm vielleicht Einhalt gebieten könnten. Werden sie den Mord verhindern? In einem gewöhnlichen Krimi – natürlich. Bei Temme: nicht.

Gut; am Ende werden die Mörder gehenkt, der Bräutigam erhält seine Strafe. Aber das steigert die Trostlosigkeit nur noch, das gehört zum Räderwerk, ist aber eigentlich belanglos und wird von Temme genauso formuliert. Das Recht kommt zu spät, es ist die Schminke für die Fratze des Normalen.

„In einer Brautnacht“ hat keine Schule gemacht, nicht einmal bei Temme selbst. Er mag sie in einem Moment tiefster Depression zu Papier gebracht haben, wie man ihn einem Emigranten zugesteht, der über die Grenze schaut und sieht, dass sich dort nichts zum Besseren gewendet hat. Aber hier liegen die Wurzeln des „noir“, in dieser schmalen Erzählung, die, ginge es in der Literaturgeschichte gerecht zu (was es natürlich nicht kann, weil es auch in der allgemeinen Geschichte nicht gerecht zugeht, weil die halt auch von den Gesetzmäßigkeiten der „noir“-Philosophie beherrscht wird), die also ein Meilenstein zu nennen wäre, ein früher und düsterer Blick voraus ins 20. Jahrhundert, das uns ja die Mörder, die ihre Arbeit wie jede andere tun, zuhauf beschert hat.

Sie können „In einer Brautnacht“ → hier lesen. Wer die Geschichte lieber gedruckt und mit einem ausführlichen Nachwort haben möchte, der gedulde sich noch ein wenig. Das kommt alles noch.

dpr

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