Krimikritik 1929

Der Literat Franz Blei, 1871 wohlhabend in Wien geboren, 1942 im Armenhospital von Westbury / New York gestorben, war ein rühriger Mensch. Er dichtete, er gründete Literaturzeitschriften, er förderte die Talente (Musil, Kafka, Robert Walser), er entdeckte die Vergessenen (ETA Hoffmann, Karl Philipp Moritz) neu. Und er schrieb „Zu Kriminalromanen“. So lautet der Titel jener kleinen Abhandlung in der Nr. 6 der „Roman-Rundschau“ von 1929.

Und der erste Satz ist merkwürdig: „In eines jeden Menschen Blut steigen, solang es lebhaft kreist, Blasen auf.“ Der zweite expliziert ein wenig, aber noch nicht ausreichend: „Wünsche, Appetite, Neigungen ganz abwegiger Art überraschen.“ Und der dritte schließt den Kreis: „Sozial eingeordnet und abhängig gibt dem ein gut dressierter Wille nicht nach.“ Kurz und knapp: Wir haben alle unsere geheimen Leidenschaften, die abwegig sind und deshalb unter Kontrolle zu halten. Denn:

„Der Mensch ist gar nicht gut. Er hat nur Angst vor den Folgen seines Bös-Seins. Er spielt das prickelnde Spiel mit seinen untergewußten Möglichkeiten, wenn er die Lektüre von Kriminalromanen liebt.“

Dieser Ansatz ist nicht neu, denn obwohl er einem anderen diametral entgegengesetzt scheint, ist er doch nur dessen Kehrseite. Die Schilderung von Verbrechen als reinigender Akt, der in uns Entsetzen auslöst und somit moralische Läuterung. Das ist Lessing pur, das ist Schiller. Bei Blei hört es sich zwar anders an: Die Schilderung von Verbrechen als die Bewusstmachung unserer Triebhaftigkeit – der Effekt ist aber ähnlich: moralische Festigung durch das gefahrlose Ausleben der zu unterdrückenden „Möglichkeiten“. Und so folgert Blei:

„Der Kriminalroman ist die harmloseste Form, in welcher der Mensch sich mit seinen bösartigen Neigungen abfindet, sich dabei aber doch immer lebhaft für sie interessierend.“

Nach dieser psychologisch-moralischen Einleitung, die ganz im Zeichen der populären Freudschen Lehre steht, beginnt Blei mit der Analyse und Bewertung von Kriminalromanen.

„Er (der Leser; dpr) kommt beim Kriminalroman nicht dazu, sich selber an die Stelle der Figuren zu setzen, denn diese sind beim richtigen Kriminalroman immer sehr schematisch gehalten, da es nicht auf sie, sondern auf die Konstruktion des Falles selber hauptsächlich ankommt.“

Oho. Wir ahnen, was jetzt postuliert wird. Das nämlich:

„Er ist wie eine Schachaufgabe. Schwarz und Weiß sind gegeben, mit verschiedenem Kräfteverhältnis.“

Die alte Streitfrage: Was ist der Kriminalroman? Wird hier sehr traditionell beantwortet: Er ist ein Spielzeug, eine Denksportaufgabe. Nach Bleis Eröffnung eine enttäuschende Schlussfolgerung, denn er selbst hat ja die Psychologie ins Spiel gebracht – und zeigt ihr gleich wieder die rote Karte. Der Leser bleibt distanziert, setzt sich eben nicht „an die Stelle der Figuren“. Die Psychologie bleibt also, was das Verhältnis Text – Leser anbelangt, eine sehr allgemeine Wissenschaft. Krimis dienen der Triebabfuhr, basta, ansonsten ist es nicht Sache des Autors, psychologisch tätig zu sein.

Andererseits: Er hat ja nicht unrecht, der Franz Blei, wenn ich mir anschaue, was in den Jahrzehnten nach dieser Erkenntnis so alles passiert ist mit dem Kriminalroman. Er wurde überpsychologisiert, die Zeichnung der Figuren hat Oberhand gewonnen und die eigentliche Konstruktion weitgehend verdrängt. Jeder schreibende Zausel gibt sich als Kenner der Seelenzustände seines Personals und verbleibt dabei in der Unverbindlichkeit des Banalen, des Angelesenen. Nur die wirklich Guten verknüpfen Psychologie und das, was Blei „die Konstruktion des Falles“ nennt so, dass der Leser tatsächlich und kurzweilig spannend zu Erkenntnissen gelangt, die vielleicht nicht mit den „unterbewußten Möglichkeiten“, wie Blei sie sieht, übereinstimmen, aber ihm doch Dinge verraten, die er bisher entweder gar nicht wusste oder nur vage in sich vermutete. Dinge über sich, die Menschen an sich oder die Welt an sich (ein Aspekt übrigens, den Blei völlig übergeht: Der Krimi als Abbild oder Kommentar zu gesellschaftlichen Zuständen.).

„Es gibt gute Kriminalromane“, befindet Blei gegen Ende seines Aufsatzes. „Sie sind so selten wie sonst gute Romane.“ Bon, einverstanden. Aber jetzt wird es rätselhaft: „Die mehreren sind schlecht, weil sie in ihrer Voraussetzung sinnlos sind, woran der Ablauf nichts ändern kann, denn diese alberne Voraussetzung stößt einem sozusagen immer wieder auf.“

Welche „alberne Voraussetzung“ denn? „Die meisten Bücher von Wallace sind schlecht.“ befindet Blei, und da stimmen wir ihm zu. Edgar Wallace war 1929 schon seit Jahrzehnten der absolute Top-Autor, den man las „aus dem tierischen Vergnügen, gehäufte Greuel vorgesetzt zu bekommen, den thriller zu erleben, wie das die englischen Verleger dieser Bücher in ihren Anpreisungen nennen.“ Das also ist die eine Hälfte der „albernen Voraussetzungen“: Blut muss fließen im Buch, Blut muss wallen im Leserkörper. Und die andere Hälfte: „(…) die verzwicktesten verwandtschaftlichen Beziehungen mit einem melodramatischen Todernst zum Schluß aufdecken zu müssen“.

Oja, das stimmt. Eine Gewaltorgie – Massenmord – serial killer – und am Ende dann steht der Autor vor der undankbaren Aufgabe, all die verwirrten Fäden aufzudröseln. Nicht nur verwandtschaftliche Beziehungen müssen aufgedeckt werden, nein, alles muss logisch hergeleitet sein, was sich der Logik widersetzt, wird gefügig gemacht durch „zusätzliche Informationen“, die nicht im Buch stehen und aus diesem nicht ersichtlich werden, sondern dem Detektivenhirn entspringen, der Allwissenheit des Autors, die doch nur sein Unvermögen ist.

Gute Autoren nennt Blei auch. Ich muss aber gestehen, dass ich den erstgenannten nicht kenne, es ist „der Norweger und abgefeimte köstliche Trunkenbold Elvestadt“. Aber den zweit- und letztgenannten kenne ich gut, schon deshalb, weil Bleis Aufsatz im Anschluss an einen Roman dieses Autors steht: Frank Heller, ein Schwede. Der Roman, der zuvor auf 108 zweispaltig gesetzten Seiten gedruckt steht heißt „Marco Polos Millionen. Psychoanalytischer Kriminalroman“, ist mindestens so köstlich wie der norwegische Trunkenbold – und widerspricht den Bleischen Thesen wo er nur kann. Indem er sie erfüllt. Darüber müssen wir aber demnächst gesondert verhalten. Verdauen Sie erst mal das hier.

dpr

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