Illthwaite ist eine kleine abgelegene (und fiktive) Gemeinde in Cumbria, Großbritannien. Über fünf Jahrhunderte lässt sich die Geschichte seiner Bewohner durch eine ältere Dorfchronik zurückverfolgen. Und doch wird sich die Gemeinde in „The Stranger House“ von Reginald Hill als Ort voller dunkler Geheimnisse entpuppen. Sam Flood, eine junge hochbegabte australische Mathematikerin und Miguel Madero, ein junger spanisch-britischer Historiker sind unabhängig von einander dorthin gekommen, um ein Stück ihrer (und seiner) Vergangenheit aufzuklären.
Alles was Sam über ihre Großmutter weiß ist, dass diese als 12 jährige (wie rund 120.000 Kinder real in den 60er Jahren) von der katholischen Kirche als Waisenkind von Großbritannien nach Australien verschifft worden war und einen Zettel mit dem Namen Sam Flood und dem Ortsnamen Illthwaite bei sich trug. Sie versucht herauszubringen, was im Ort mit ihrer Großmutter passierte. Miguel Madero dagegen, ein ehemaliger Seminarist, möchte seine Doktorarbeit schreiben und ist auf der Suche nach Quellen über einen katholischen Priester, der zur Zeit der Katholikenverfolgung lebte und dessen Familie aus Illthwaite stammte.
Beide treffen einen verschwiegenen Ort. Alle reden mit Ihnen, aber kaum einer sagt ihnen etwas. Es sind skurrile, verschrobene Typen, die sie dort vorfinden. Und so unterschiedlich Sam und Miguel auch sind, sie harmonieren gut und finden langsam zueinander. Stück für Stück arbeiten sie sich voran und entblättern die Geheimnisse des Orts.
Das 2005 erschienene „The Stranger House“ ist kein Buch der legendären Serie um die beiden Ermittler Dalziel and Pascoe. Das in der englischen Kritik vereinzelt auch als psychologischer Thriller bezeichnete Buch wird durch die Bezeichnung „Spannungsroman“ passend charakterisiert. Reginald Hill demonstriert hier seine souveräne Stilistik: Eine Geschichte voller historischer Bezüge geistreich mit Humor zu erzählen. Losgelöst von den Konventionen seiner Serie, so scheint es, hat er sich stilistische Freiheiten genommen. Anders als bei den Dalziel und Pascoe – Büchern ist der verschmitzte Humor direkter und die zahlreichen literarischen Zitate werden mit „Quellenangabe“ genannt.
Etwas Kryptographie, etwas nordische Mythologie, etwas Katholikenverfolgung zur Zeit Elisabeth I und viele Diskussionen zwischen atheistischer Mathematikerin und ehemaligem Seminaristen, wenn man einen Vergleich sucht, könnte man ihn bei „Sakrileg“ von Dan Brown finden und „The stranger house“ als intelligente „Variation“ des Bestsellers ansehen. Obwohl, es geht natürlich weniger spektakulär zu. Spannung wird nicht künstlich gesteigert, keine Weltenrettung steht an, keine (Pseudo-)Botschaft des Schriftstellers soll unters Volk gebracht werden; sondern es werden einfach ein paar gut verpackte Rätsel, mit ernstem Hintergrund, gescheit erzählt.
Nicht jedermanns Sache dürfte sein, dass Hill sich über 600 Seiten Zeit gibt und so wundert es nicht, dass es bei so viel gediegener literarischer Verpackung etwas dauert, bis sich der Zwang des Wissenwollens beim Leser einstellt. Viele Fäden werden anfänglich ausgelegt, ohne dass man zuerst ahnt, wohin das Ganze führen soll, was Staffage und was Spur ist. Vergnüglich zu lesen ist das, zumal Hill seine Personen sorgfältig einführt, aber die rechte Spannung mag sich zuerst noch nicht einstellen. Erst als dann nach 400 Seiten der größere Zusammenhang erahnbar wird, steigert diese sich merklich.
Jedes Buch hat seine Zeit: Nach Büchern von Ellroy, Bruen und Peace war „The Stranger House“ als anderes literarisches Konzept hoch willkommen.
Reginald Hill: The Stranger House. HarperCollins 2006. 626 Seiten. 9,90 € (noch nicht ins Deutsche übersetzt)