Stephen White: Missing Persons

Alan Gregory ist (wie der Autor Stephen White) klinischer Psychologe. Er versucht Menschen mit psychischen Erkrankungen gesprächstherapeutisch zu behandeln. Medikamentöse Behandlungen führt er eher nicht durch. Es ist eine der Stärken von „Missing Persons“ von Stephen White, dass Alan Gregory uns mit in seine Praxis nimmt.

Da ist zum Beispiel Bob; Bob hat eine schizoide Persönlichkeitsstruktur, er kann keine Beziehungen zu anderen Menschen aufbauen und die Gefühle von anderen Manschen nicht werten. In wenigen Worten charakterisiert Alan Gregory den Patienten und führt uns ansonsten durch seine Dialoge mit ihm.

Wie es der Titel des Buches andeutet, verschwinden mehrere Personen in Boulder, Colorado, und ohne dass er es will, kreist alles Geschehen um Alan Gregory. Hanna Grant, eine gute Bekannte und Kollegin, wird von ihm tot in ihrer Praxis gefunden, eigenartige Begleitumstände lassen ein Gewaltverbrechen möglich erscheinen. Kurze Zeit später, am Heiligen Abend, verschwindet eine Jugendliche, die von Hanna Grant betreut wurde.
Nein, Alan Gregory will sich mit all dem nicht beschäftigen. Schon häufiger war er in Ermittlungen verwickelt und seine Familie im Schussfeld. Und überhaupt: Zu viele Erinnerungen an das Verschwinden eines kleines Mädchens vor genau acht Jahren werden da geweckt.

Aber es kommt natürlich anders als er es gerne hätte. Diane Estevez, enge Freundin, Kollegin und Partnerin von Alan Gregory, verschwindet beim Versuch, die Mutter der verschwundenen Jugendlichen in Las Vegas zu besuchen, Bob, der eigenwillige und zwanghaft pünktliche Patient, erscheint weder zu seinem Termin bei Alan noch in der Arbeit, und der Vater der Jugendlichen will Alan konsultieren.

Tiefer und Tiefer wird Alan in die rätselhaften Vorgänge gezogen und mehr und mehr gerät er in die Zwickmühle, denn all sein Wissen resultiert aus Gesprächen mit Patienten und Konsultationen von Kollegen über Patienten, ist also vertraulich. Andererseits könnte sein Wissen helfen, die Vermissten zu finden und Menschenleben zu retten. So bleibt Alan Gregory nichts anderes übrig als einen Weg zu finden, dass möglichst viele der verschwundenen Personen wieder wohlbehalten auftauchen.

„Missing Persons“ ist ein Buch, welches vom populären amerikanischen Schema abweicht: Keine Alphatiere, die durch die Strassen ziehen, keine Drogentoten auf den Strassen, keine Waffen im Handschuhfach. Statt dessen eine komplexe Geschichte um einen Psychologen im Netz seiner professionellen Ethik. Intelligent, nicht nur lehrreich, sondern auch spannend, mit Dialogen die zeigen, dass der Autor (wie bei einem Gesprächstherapeuten nicht anders zu erwarten) offensichtlich eine wesentliche Zeit seines Lebens damit verbringt, Dialogstrukturen zu verstehen. Analytisch lässt er uns die Gespräche begleiten, welche so gebrochen aufgebaut sind, wie sie es in der Realität häufig sind. Mit feinem Gespür belegt er einzelne Sprecher mit sprachlichen Marotten und offenbart so auch eine humorvolle Seite.

Seit 1991 schreibt Stephen White seine Romane um Alan Gregory. „Missing Persons“ ist ein gelungenes Buch eines eigenständigen Autors, welches von den Lesern erwartet, dass sie sich einlassen auf seine Besonderheiten und sie dafür reich belohnt.

Stephen White: Missing Persons. 
Signet 2006. 515 Seiten. 8,99 €
(noch keine deutsche Übersetzung)

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