Aus dem Archiv

Für heute habe ich eigentlich nichts. Die Hitze, die Schwüle. Die über-, ja unmenschliche Arbeit als Ersatzalligator. Aber ohne Beitrag (die Ersatzalligatorenschaft jetzt mal ausgenommen)? Das halten doch die Leser nicht aus! Denen wird was fehlen! Wohldenn. Vorgestern zufällig auf meiner Festplatte gefunden: ein Prolog des geplanten Essays „Was ist Krimi. Eine Begriffszertrümmerung“. Ohne Fragezeichen, darauf lege ich wert. Ist ein wenig ins Abseits gerückt, das Projekt, aber noch nicht aus den Augen verloren. DIESEN Prolog werde ich wahrscheinlich nicht verwenden oder wenn doch, dann überarbeitet. Ich drucke ihn mal nachfolgend ab. Ellenlanges Teil, fast vier Din A 4 – Seiten. Das reicht übers Wochenende.

Was ist Krimi. Eine Begriffszertrümmerung

Prolog

Wenn wir uns die Literatur als einen gigantischen Haufen von Büchern vorstellen – was nahe liegt – und man uns auffordern würde, diesen Haufen zu ordnen – was man ganz bestimmt tun wird; Ordnung ist immer das Naheliegendste – dann – ja, was dann?

Dann besorgen wir uns ein gigantisches Bücherregal. Auch naheliegend. Und weil uns alle Zeit der Welt gegeben ist – schließlich haben wir es mit der Literatur zu tun, die eben diese alle Zeit in sich birgt – lesen wir den Haufen querbeet, und während der Haufen kleiner wird – man sollte sich die Literatur vielleicht doch eher als den Himalaja vorstellen – während also Buch für Buch aus dem Chaos durch unser Gehirn / unser Gefühl gezogen wird und also zur Ordnung gelesen – füllt sich das gigantische Regal.

Man soll sich ja immer an Analogien halten. Die Meisterwerke wandern nach oben. Das empfiehlt sich schon, damit selbst das bloße Inbesitznehmen des Objekts mit Anstrengung verbunden ist, vom Inbesitznehmen seiner Immaterialität ganz zu schweigen. Darunter die vielen Solalas, Sie wissen schon. Die guten Meister zweiten Ranges, wie sie ein Meister ersten Ranges einmal genannt hat und von denen es weniger gibt, als man vermuten mag, die Handlungsreisenden des Durchschnitts dazu, ein Heer aus grauen Herren und Damen mit Standardaktentaschen unter den Armen, unscheinbar in der Literatur, eigentlich, aber sie unterhalten einen so schön, wenn man nichts anderes ertragen kann.

Die in der Mitte kann man sich hübsch bequem aus der alltäglichen Körperhaltung heraus greifen und lesen wie man isst oder trinkt oder auf den Zug wartet.

Ja, und ganz unten stehen die schlechten Bücher ihre Strafe ab. Wer nach ihnen greift, muss sich schon bücken und zeigt damit, dass er sein Rückgrat nur hat, um devot zu sein, sich selbst zu erniedrigen.

Irgendwann – Zeit spielt ja keine Rolle – sind wir fertig und betrachten das Werk wohlgefällig. Wohlgefällig? Immer weniger, wenn wir ehrlich sind. Das Gute an jeder Ordnung ist, dass man sie noch ordentlicher machen kann, und die Meisterwerke oben, das Mittelmäßige, weil nur Unterhaltsame in der Mitte, der Schund / der Tand / die Kolportage / der Abschaum – der Teufel hat immer mehr Namen als Gott – ganz unten. Mit der horizontalen Ordnung sind wir zufrieden. Aber was ist mit der vertikalen?

Da stimmt ja gar nichts! Da steht ja Leo Perutz direkt unter Shakespeare – ich meine, nichts gegen Perutz… aber direkt unter Shakespeare? – wie soll sich da einer orientieren, der aus der Höhe des Entzückens eine Etage tiefer geht, zum minderen Shakespeare vielleicht, und dann landet er ausgerechnet bei Perutz! Oh je! Noch ärger! Der letzte Bestseller von Frau X. (beliebigen Namen einsetzen; wird schon stimmen) thront über Jerry Cotton, der wiederum lauert indirekt unter Schiller – Schiller! – auf seine jugendverderberische Chance, wenn der Konsument der Dame X., kühn geworden, sich nach Schillern streckt und dann, noch kühner geworden, ganz nach unten bückt. Zwischen der Dame X. und dem Schiller gibt es vielleicht eine Verbindung (beide kratzen heroische Federn bisweilen), aber der Cotton passt nun gar nicht. Das muss sich ändern! Das müssen WIR ändern!

Na, in Ordnung. Sysiphos wollen wir jetzt nicht nachspielen; aber ein bisschen Ordnung in der Vertikalen könnte schon sein. Bloß: wie?

Also passen Sie mal auf: Es soll tatsächlich Leute geben, die ihre Bücher nach der Farbe des Einbands, der Größe, dem Erscheinungsjahr oder der Häufigkeit des Vorkommens des Buchstabens „e“ ordnen. Warum also nicht thematisch? Denken wir nur an das Verbrechen. Die Literatur ist voller Mord und Totschlag, die allergrößten haben ihre Finger nicht davon lassen können. Schiller hat gemordet. Fontane hat gemordet. Dürrenmatt hat gemordet. Alles Leute, die oben stehen, und dort bleiben sie auch. Aber direkt darunter kommen jetzt die etwas kleineren Meister (der Perutz beispielsweise, der hat auch krimiähnliche Anwandlungen gehabt) oder das Gediegen-Unterhaltsame wie Chesterton, Glauser, Chandler, ja, Christie meinetwegen. Ja, schon gut. So gediegen-unterhaltsam und sonst nichts sind schon dreiste Attribute für Leute wie Chesterton, Glauser, Chandler. Aber man muss doch abschätzen, relativieren, verstehen Sie? Ohne das keine Ordnung, und nur weil objektiv auch mit „o“ anfängt, passen die Wörter noch lange nicht zusammen. Dürrenmatt war nahe am Nobelpreis (sagt man), Glauser zu nahe an der Psychiatrischen. Aber weiter im Text.

Darunter der Schund; der viele, viele Schund, der Boden, auf dem Kathedralen nun einmal zwangsläufig stehen. Gottseidank arbeiten wir mit dicken Regalbrettern, sodass eine jede Klasse unbehelligt von der anderen existieren kann. Friedliche Koexistenz eben; ob Frau Oberstudienrätin den versoffenen Bauarbeiter von nebenan nun mag oder nicht: solange die Wände dick genug sind, mag es angehen.

Und genau das selbe machen wir auch mit der Science Fiction, dem Western, der Reisereportage, dem Ritterroman, dem Fantasyschmarren und –

wissen Sie was? Wir haben gerade die Genres erfunden. Moment mal – Horizontal ist ja alles schön abgegrenzt – dass bloß nicht der Dürrenmatt gegen den Perutz stößt und was abbekommt – und den Perutz wollen wir doch vor dem Jerry Cotton schützen. Aber in die Senkrechte bauen wir auch noch etwas ein, damit jeder sieht: Stopp. Hier beginnt das Genre. Und hier endet es. Keine Irritationen. Keine Fehlgriffe, keine Revolution, auch von Evolution bitten wir Abstand zu nehmen. Wir könnten Schnüre nehmen und von oben nach unten spannen. Zwischen den Genren. Zwischen den Genren und dem, was genrelos ist, weil wir vielleicht auch schon zu müde sind, nach Verwandtschaften zu suchen. Gute Idee, das. Nicht?

Sie wollen wissen, was Krimi ist? DAS ist Krimi. Eine Abgrenzung. Sollten Sie eine kurzbündige Antwort wollen, wenden Sie sich bitte an die Personen, die das Regal eingeräumt haben. Sie hatten durchaus gute Absichten, gute Gründe für ihr Bemühen, und die freundliche Buchhändlerin gedenkt ihrer mit Hochachtung, wenn man sie wieder einmal fragt: „Ham’se nich was Kriminelles für’n gehobnen Geschmack?“ Ein Griff – und wieder ein zufriedener Kunde.

Indes wenn Sie sich entschieden haben, dieses Buch hier zu lesen: werden Sie, danach, das Regal mit anderen Augen sehen. Die Regalbretter sind verschwunden. Oh. Die Bücher berühren sich, und fast könnte man meinen, sie gehörten alle irgendwie zusammen.

Und die senkrecht gezogenen Schnüre; Sie erinnern sich? Diese kerzengeraden, akkuraten, lotrechten Schnüre – sie winden sich jetzt ohne Verstand und ohne System wie Efeu an den Büchern hoch und runter, schlagen Volten, beschreiben Kurven, hinter deren Gleichungen kein Mathematiker kommt.

Keine Definition in Sicht? Nein, es gibt doch schon so viele. Manchmal ist es dann sinnvoller, man radiert sich die Gewissheiten aus dem Bildungskanon, das schafft Platz für neue, mögen die auch sperriger sein und eigentlich auch keine Gewissheiten, sondern ein schaurig-turbulentes Gemälde von der Ungewissheit.

Schade. Wenn man Ihnen auf der nächsten Party die Frage stellt, was denn Krimi sei, werden Sie entweder zu einer stundenlangen Erklärung anheben oder lächelnd schweigen. Man wird Sie nie mehr zu einer Party einladen. Halten Sie das aus? Dann lesen Sie bitte weiter.

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