Am Ende schaut der Held mit feuchten Augen auf seine Königin, seine Stadt, Marseille. Der Leser nimmt das perplex zur Kenntnis, denn eine solch tragende Rolle hat die Stadt vorher nicht gespielt. Statt dessen herrschte das Gehetze eines weltumspannenden Abenteuerromans vor, und eher wenig der urbane Thriller, womöglich noch tout noir. Nix da. Von Marseille geht’s nach Paris, zurück nach Marseille, auf Tauchgang ins polynesische Tureia Atoll, zum Showdon zurück auf die Insel Porquerolles vor den Gestaden Marseilles, wo alles mit einer angeschwemmten Leiche begann. Habe ich eine Station vergessen? Bestimmt…
Was sonst noch? Raue Atmosphäre, eine Hauptfigur, die alle Klischees mediterranen Machismos bedient: Leutnant Paul Cabreras, „der Bulle mit dem Pferdeschwanz“, (ginge auch glatt als kolumbianischer Drogendealer einer durchschnittlichen Miami Vice Folge durch – demnächst in diesem Theater), testosterongeschwängert, voller Wut im Bauch, worauf und wogegen wird nie so recht klar, außer dass sizilianisches Blut heiß durch seine Adern fließt, was Cabreras Gefühlswelt permanent in Wallung bringt. Da braucht’s schon einen starken weiblichen Gegenpol, und voilá, here she goes: die pragmatische (nur einen winzigen Moment hysterische) amerikanisch-polynesische Psychoanalytikerin, wunderhübsch anzuschauen, natürlich, muss sie im überdrehten Schlussteil doch als Prinzessin herhalten.
Womit wir bei der Handlung wären: was als Todesfall mit möglichem politisch brisanten Hintergrund beginnt, wird mit zunehmendem Verlauf immer abstruser, absurder und auf leicht eklige Art unfreiwillig komisch. Wenn unser langmähniger Held den Schlusskampf gegen einen polynesischen Höllenjungen leicht geschürzt (!!!) und kaum blessiert überlebt hat – dank der schnellen Eingreiftruppe, die Deus-Ex-Machina-mäßig auftaucht und fast alle Bösen plattmacht (so weit sie das noch nicht selbst erledigt haben) – bleibt dem geneigten Leser eigentlich nur ein leicht debiles Grinsen oder ein vehementes Kopfschütteln für den Epilog übrig. Na ja, vielleicht fallen dem ein oder anderen Magenschwachen auch die letzten schnell geschlürften Austern aus dem Gesicht.
Nicht, das wir uns falsch verstehen: ich habe mich für das leicht debile Grinsen entschieden – ich mag den Roman! Er ist meistens schnell, stilistisch ruppig, politisch vergnüglich inkorrekt und von einer Maßlosigkeit, die einfach Spaß macht. Da springt der Krimi schon mal ins Fantasyfach und gleich daneben winkt Indiana Jones mit dem Lendenschurz, den er Tarzan geklaut hat. Jede kleinliche Ernsthaftigkeit geht dem Roman ab, und wer was dagegen hat, der kriegt eins auf’s Maul, aber deftig. Gefangene werden selten gemacht, gesellschaftliche Implikationen spielen kaum eine Rolle, die politische Komponente ist nur ein roter Hering, der in die Kerzen beleuchtete Grotte mit den schwarzen Messen führt. Paulchen und die Jungfrau von Orleans im Darkroom. Genau das Richtige für einen oder zwei heiße Tage am Strand, vorzugsweise natürlich in Frankreich, vorzugsweise nach dem ein oder anderen Pastis, um die Unglaubwürdigkeiten – und da gibt es einige – lässig, locker und charmant übersehen zu können.
Olivier Descosse: In der Höhle des Kraken.
Blanvalet 2006. 475 Seiten. 8,95 €