Und noch eine kleine Sommerserie: Kurze Überlegungen zur Geschichte der Spannung in Kriminaltexten. Vieles ausbaufähig, das meiste skizzenhaft. Keine Angst: Gibt keine Heftchen.
Für die These, die Spannung in alten Krimis unterscheide sich grundsätzlich von der in neuen, gibt es ein beredtes Belegstück, den 1981 beim Freiburger Herder-Verlag neu aufgelegten Roman „Mord beim Sandkrug“ von J.D.H. Temme.
Clou dabei: Der Roman heißt gar nicht so. „Im Amtshause zu Sinningen“ hat Temme sein 1876 erschienenes Buch genannt, unbezweifelbar ein Krimi, doch mit einer anderen Akzentuierung, wie sie der Titel schon ausweist. „Ein verwickelter Kriminalfall aus der Zeit der Postkutsche“, expliziert der Herder-Verlag im Untertitel, der natürlich schon gar nicht von Temme stammt, doch wie der Haupttitel an Instinkte appelliert, die mit dem zu tun haben, was sich der moderne Leser von einem Krimi erwartet: Mord. Verwickelt.
Nun ist es tatsächlich so, dass ein Mord an einer Poststation namens Sandkrug stattfindet. Nach unserem Verständnis „spannend“ ist das aber nur zum Teil. Ein Verdächtiger wird festgenommen, die Beweislast ist erdrückend. Am Ende klärt der ermittelnde Richter den Fall, doch nicht unter Zuhilfenahme herkömmlicher Spannungselemente (das „wer war’s“ ist rudimentär ausgeprägt und letztlich nicht von Interesse), sondern eher „auf dem Dienstweg“.
Die eigentliche Geschichte und mit ihr die eigentliche Spannung konzentriert sich um die Bewohner jenes Amtshauses zu Sinningen, so dass der ursprüngliche Titel durchaus treffend ist. Dort leben der Tatverdächtige, ein mysteriöser, häufig zu „dunklen Geschäften“ abwesender Mann und seine beiden Töchter. Dramatisch wird das Ganze, als die Frau des Mannes und Mutter seiner Töchter zusammen mit dem Sohn der Familie auftaucht. Sie sind das böse Gegenstück, die schwarzen Schafe der Sippe, und sie lassen nichts unversucht, an das Vermögen des Mannes zu gelangen, wobei sie auch vor Entführung nicht zurückschrecken.
Auch das ist kriminell – mehr aber noch ein psychologisches Familiendrama mit einem Abstecher in das weite Feld von Schuld und Sühne. Der Mordfall selbst treibt die Entwicklung dieses privaten Dramas voran und verhilft ihm letztlich zu seiner Klärung. Die Spannung selbst liegt also in der Personenkonstellation, nicht so sehr im äußeren Geschehen.
Genau darauf nun spekulierte Herder bei der Neuausgabe: auf die Spannungserwartungen von Lesern, für die „Krimi“, „alter Krimi“ zumal, etwas mit „Mord“ zu tun haben muss. Die Postkutsche sorgt dabei für das nostalgisch-romantische Flair. Fast unnötig zu erwähnen, dass Temme sich nicht genötigt sah, „von hinten nach vorne“ zu arbeiten. Der Mordfall löst sich höchst logisch, aber ohne größere logischen Verrenkungen auf. Wohl gibt es Täter und Tatmotiv, auch die Begründung des falschen Verdachts wird geliefert, nicht indes als ein „suspense“-Konstrukt mit dramatischem Finale. Die fehlen in alten Krimis eh meistens. Was vielleicht wirklich am „Zeitalter der Postkutsche“ liegen mag.
(diese Überlegungen werden fortgesetzt. Ergänzungen und Einwürfe der Leserschaft sind herzlich willkommen)
lieber dpr, schönen Dank dafür, daß Sie mich jetzt zu einer Klärung meiner eigenen Ideen veranlassen: Vielleicht sollte man die ganze Diskussion unter die Überschrift (entschuldigen Sie das Selbstzitat) ‚Verbrechen als Zeichen‘ stellen. In unserer ‚Krimikultur‘ ist es (grosso modo) ’normal‘, daß das Verbrechen den Menschen bezeichnet, dem es am Ende zugeschrieben werden kann (denken Sie bitte an Ihren Bettnässer, andere, nichtfiktionale, Beispiele gäb’s zuhauf (mich hat dies beispielsweise bei Norbert Horst gewundert und geärgert)). Das 19. Jahrhundert war da (ebenfalls grosso modo) differenzierter (svv: weniger reaktionär). Man hatte eben Feuerbach gelesen und für sich erkannt, daß dessen ‚einliniges Begehren‘ für die (literarische) Verbrechensdeutung nichts hergab, und man hatte, beispielsweise bei Droste-Hülshoff, lernen können, daß Mord eine höchst fragwürdige Bezeichnung für Menschen sein kann.
Wär‘ ich bös‘, würd ich sagen, daß (viele) Autoren des 19. Jahrhunderts die literarische Bildung, die heute als Schmuck gilt, ganz selbstverständlich hatten und reflektieren konnten. Aber ich bin schließlich nicht bös‘ und grüße in die steigende Hitze!
Lieber Herr Linder, interessanter Ansatz, ich muss drüber nachdenken, bevor ich voreilig loskommentiere (sollte ich eigentlich immer, mache ich aber nicht immer). Aber zur literarischen Bildung: Ja, seien Sie ruhig so böse (ich jedenfalls bins): Man hatte damals diese literarische Bildung und vermochte sie zu reflektieren. Eine andere Frage ist, ob man literarische Bildung beim Krimischreiben braucht. Darüber denk ich auch mal nach.
bye
dpr