Michael Robotham: Amnesie

In einem Krankenbett erwachen, ahnen, dass etwas Furchtbares geschehen sein muss, aber nicht wissen was – das ist die ideale Ausgangssituation für einen Thriller. „Amnesie“ von Michael Robotham verrät sein Thema schon im Titel, aber der Text selbst ist nicht frei von Überraschungen.

Inspector Vincent Ruiz ist das Maleur widerfahren, eine dramatische Spanne Zeit einfach aus dem Gedächtnis verloren zu haben. Also begibt er sich, von seinen körperlichen Blessuren noch nicht genesen, auf die Suche nach der verlorenen Zeit und ihren Geheimnissen. Alles hängt mit einem Fall zusammen, den Ruiz vor Jahren erfolglos bearbeitet hat: Die kleine Mickey verschwand spurlos, ein offensichtlich pädophiler Nachbar wurde per Indizien überführt und abgeurteilt.

Die allmähliche Ausleuchtung des dunklen Gedächtnisraumes wird von Robotham mit allen Kniffen des geübten Thrillerautors in Szene gesetzt. Mickeys Mutter ist die Tochter eines schwerreichen Mannes, Mickeys Vater ein nicht weniger betuchter Gangster russischer Herkunft. Beruflich gerät Ruiz von Stunde zu Stunde mehr ins Abseits, am Ende wird er gar gegen die Polizei agieren müssen, nur eine indischstämmige Kollegin und ein befreundeter Psychiater verbleiben an seiner Seite. Es gibt Irrwege, Umwege, falsche oder doch falsch interpretierte Wahrheiten, der ganze gute Stoff eben, geschickt inszeniert und spannend erzählt. Thrillerfreunde machen hier keinen schlechten Griff.

Der besondere Reiz von „Amnesie“ liegt jedoch auf einer eher abstrakten Leseebene. Es geht um Identität, um Verdrängung und Vergewisserung. Ruiz, so erklärt ihm sein Psychiaterfreund, könne sich an die Geschehnisse wohl deshalb nicht mehr erinnern, weil er mit seiner eigenen Herkunft nicht im Reinen sei. Und die hat es in sich. Ruiz Mutter, eine Roma, war im KZ von deutschen Soldaten vergewaltigt worden, er selbst ist die Frucht dieses Verbrechens. Zudem belastet ihn der Tod des kleinen Bruders, an dem er mitschuldig war. Das daraus resultierende unbearbeitete Trauma liegt dem aktuellen zu Grunde, beide sind eins und können nur zusammen aufgelöst werden.

Das klingt nun wie abfotografiertes Lehrbuch der Psychoanalyse, ist aber in der Praxis des Romans bei weitem nicht so schlimm wie in seiner theoretischen Umschreibung. Vor allem macht es diesen Ruiz zu einer interessanten, gebrochenen Figur mit einem Blick auf eine nicht weniger labile Welt.

Interessant in diesem Zusammenhang: „Amnesie“ ist ein weiteres Buch zum Thema Identitätssuche / Wirklichkeit als Fiktion und Fiktion als Wirklichkeit. Wir erinnern uns an Leonardo Paduras „Adiós Hemingway“ und Robert Littells „Kalte Legende“, beide auf ihre Art Meisterwerke, auch Jenny Silers „Ticket nach Tanger“ fällt wohl in diese Kategorie. Eine auffällige Häufung thematischer Verwandtschaften durchaus, gewiss kein „Trend“.

An Padura und Littell reicht „Amnesie“ auf dieser Leseebene nicht heran; seinen Platz neben den genannten Titeln auf der Krimiwelt-Bestenliste September 2006 hat es aber verdient.

Michael Robotham: Amnesie. 
Goldmann 2006. 448 Seiten. 19,90 €

12 Gedanken zu „Michael Robotham: Amnesie“

  1. ersparen Sie mir, lieber dpr, jetzt nach Titeln und Belegen zu suchen (ich muß eine elend lange Doppelrezension lektorieren/begutachten): was Sie im vorletzten Absatz anmerken, wäre doch ein Aspekt für die andernorts vermißte Krimi-Theorie — sofern Detektion dabei eine Rolle spielen sollte, die immer das Potenzial hat, den Detektiv (wie immer diese Rolle ausgearbeitet ist) über sich selbst aufzuklären, und ‚Traumabearbeitung‘ ist ein in dieser Hinsicht bewährtes Muster. Nur so am Rande … (als Münchner muß man ja derzeit zuwarten, da der Geist erst am Wochenende einschweben wird).
    Beste Grüße!

  2. … und ersparen Sie mir, lieber TL, bitte Krimitheorien… Ich stehe ja eh auf dem Standpunkt, dass man alle Begrifflichkeiten von „Was ist Krimi“ erst einmal zertrümmern müsste, um dann zu wissen, was Krimi ist. Aber nu, weites Feld.
    Aber Sie haben mich natürlich wieder gepackt, mein Lieber: Ist „Krimi“ eine Genrebezeichnung oder eine schlichte literarische Technik? (Beispiele für letzteres: Raabe, Doderer, ja, sogar Handke) Die von mir namentlich genannten Littell, Padura, Siler und Robotham zeigen, wie fließend hier die Übergänge sind. Spannende Krimis, durchaus „Genre“, auf einer anderen (ich sag jetzt nicht: höheren) Ebene aber eben auch „literarische Technik“, Krimi als notwendiger Türöffner zu anderen Gedankengebäuden. Interessiert mich im Moment deshalb, weil ich ja über die Frau P. aus F. schreibe, die das auch bis zum Abwinken gut beherrscht. Na, vielleicht stell ich mal Auszüge aus dem entsprechenden Kapitelchen vorab ins Netz. Als LESEPROBE (Wink Richtung Wiesbaden)…

    bye
    dpr

  3. gut, leseprobe.
    der text muss ja immer SELBST sprechen. auch wenn sich das dann GEGEN ihn wenden kann. dieses „Hey Baby!“-Gerede im Krimi jedenfalls geht mir sehr schnell sehr auf den Geist. wer das noch einigermaßen hingekriegt hat, war Jakob Arjouni mit seiner happy-birthday-türke-reihe.

  4. warum ‚Genrebezeichnung oder Technik‘? Genre ‚existiert‘ doch stets als Beobachterkonstrukt, damit kontrolliert werden kann, was im Horizont auftauchen soll, was nicht, das gleich gilt/gälte für ‚Technik‘.

  5. Klar reden wir hier über Beobachterkonstrukte. Aber lassen Sie mich den Unterschied am vielleicht prägnantesten Beispiel festmachen: Edgar Poe. Der Mann hat ja, nu vielleicht nicht das Genre erfunden, aber doch eine Blaupause geliefert, von der dann Garboriau, Doyle etc. profitierten und die zu einem bis heute dominanten Genremerkmal wurde. Ich kann also „Morgue“ und die anderen Stories Poes hübsch von meinem Genre-Beobachterposten herab lesen und genießen und interpretieren, Deduktion, Spannungsbogen, aus einem Wirrwarr scheinbar nichtssagender Fakten wird WAHRHEIT etc.
    Aber jetzt zur „literarischen Technik“: Ich kann die Poe-Erzählungen auch ganz anders lesen, überhaupt nicht genrebezogen. Dazu muss ich aber einiges mehr kennen als nur diese Geschichten, ich muss „Pym“ und „Rodman“ gelesen haben und begreifen, dass es sich hier um „Krimis auf dem Kopf stehend“ handelt, um Geschichten, die aus der Gewissheit in die Ungewissheit führen. Akzeptiere ich das, begreife ich „Krimi“ als literarische Technik, die das Ganze umkehren soll, nicht mehr „Krimi“ ist, sondern ein Mittel zur Erforschung UND Beherrschung der Psyche.
    Sie haben Recht: Poes Geschichten sind sowohl als auch. Sie werden aber auch nicht leugnen können, dass nicht alle, die auf Poes Schultern stehen, dieses andere Lesemodell im Blick haben. Übrigens hat das natürlich nichts mit „altmodisch“ (nur Genre) und „modern“ (beides) zu tun, Sie wissen das. Nicht einmal mit „gut“ und „schlecht“. Es ist, dies zum Schluss (man könnt ja schreiben und schreiben…) ja auch immer wieder köstlich, wie offensichtlich „Krimi als literarische Technik“ manchmal gegen die vorgeblichen Genregesetze rebellieren MUSS – und dann von freundlichen Hilfestellern (hatten wir heute auch schon) aus dem Genre gekickt wird.

    bye
    dpr

  6. Yep, lieber TW, und the other way round. Manchmal generiert literarische Technik Genre. Man könnte ja behaupten, „Krimi“ gäbe es nur, weil Garboriau und Doyle und Konsorten zu doof waren, Poe richtig zu lesen…

    bye
    dpr

  7. Tut mir leid, ich komm jetzt in den Zeittodder, aber nur noch kurz: Genre ist zunächst KEIN Beobachterkonstrukt, sondern ein Generierungsprinzip: Bsp.: Ein „Küchenstück“ (Stilleben, 17. Jhr.) ist so ein Prinzip – das dann natürlich variiert, durchbrochen, dementiert werden kann – etc. Man muß die REIHE anschauen – und das gilt auch für den KR …
    More later, in Eile
    TW

  8. …wobei dann die nächste Frage sein könnte: Wer generiert? Die Schöpfer oder die Beobachter? Im Zweifelsfall beide, im Zweifelsfall auf Konfrontationskurs.

    bye
    dpr

  9. Lieber TW,
    wird das Kuchenstück nicht dadurch zum Genre, dass der Beobachter es als Generierungsprinzip anerkennt [konstruiert] ?

    Und, lieber dpr,
    generiert der Schöpfer nicht als Beobachter ?

    Beste Grüße

    bernd

  10. was Genre/Beobachtung/Generieren angeht: da bin ich blind genug, keine Widersprüche zu erkennen. Und Poe: da sind in der letzten Zeit wieder eine Reihe von US- und GB-Arbeiten erschienen, die den populären Vorlauf (in Zeitungen, broadsheets etc.) zeigen. (Zwei oder drei davon stehen bei IASL zur Rez. an, wie lang das dauert, kann ich nicht sagen.)

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