Michael Connelly: Vergessene Stimmen

Es gibt diese Krimis: Sie sind nicht „subjektiv“ erzählt, sondern präsentieren ihre Geschichte distanziert; so distanziert, dass man die Stimme des Autors zwischen denen seiner Personen und manchmal auch über ihnen zu hören glaubt. Halbdokumentarisch könnte man das nennen, analog zur klassischen „Dragnet“-Serie und ihrem deutschen Pendant „Stahlnetz“. Die Taktik ist durchsichtig. Authentizität soll suggeriert werden, beinahe aktenmäßiges Ausbreiten der Geschehnisse, Wahrhaftigkeit eben oder doch wenigstens ihr banaler Ableger, „die Wahrheit“. Michael Connellys „Vergessene Stimmen“ ist so ein Versuch, und er gelingt.

Harry Bosch ist zurück. Vor drei Jahren desillusioniert aus dem Polizeidienst ausgeschieden, nimmt er seinen Dienst beim Los Angeles Police Department wieder auf. Er wird einer neuen Abteilung zugewiesen, die sich mit „kalten Fällen“, ungeklärten Morden also, beschäftigt, den „vergessenen Stimmen“ des Titels. Gemeinsam mit seiner alten Partnerin Kiz Rider widmet er sich dem Fall einer 1988 ermordeten Sechzehnjährigen. Immerhin: Es gibt eine neue Spur, eine DNA-Analyse, die auf einen der Tat Verdächtigen verweist. Bosch und Rider tragen nun ihr Material zusammen und geraten immer tiefer ins Milieu amerikanischer Neo-Nazis, aber auch das der polizeiinternen Intrigen und Versäumnisse. Freunde machen sie sich damit nicht; den Tatverdächtigen wirklich festnageln können sie damit auch nicht. Zumal ihn die Ermittler selbst lediglich für einen unfreiwilligen Helfershelfer des eigentlichen Täters halten. Um den endgültigen Beweis in die Hand zu bekommen, muss in einer aufwendigen und raffinierten Aktion getrickst werden. Und das geht fürchterlich schief…

Eine fast bedächtig anrollende Geschichte ist das. Man befragt die Beteiligten und Zeugen von damals, liest die alten Akten wieder und wieder, spekuliert, verwirft, spekuliert erneut. Die Protagonisten bleiben außerhalb ihrer Berufsarbeit schemenhaft, was zu Connellys Strategie gehört, die eben auf den Fall an sich fixiert ist und ihn mit beinahe wissenschaftlicher Akribie ausbreitet. Das klingt nun arg nach Reißbrettkrimi, genauem Abzirkeln der Handlungskreise, und so ist es, technisch gesehen, durchaus. Das Elend der Eltern des ermordeten Mädchens, die Neonaziszene und ihre Verharmlosung durch die Behörden, all das wird „aufgearbeitet“. Aber nicht schlecht, das muss man Connelly lassen, er wird auch hier nicht zum Schwätzer oder Moralisten.

Am Ende verlässt die Story ihr auf Authentizität getrimmtes Umfeld und mutiert, wie kaum anders zu erwarten, denn doch noch zum schulmäßigen Thriller mit allen bekannten Zutaten. Ein dramatischer Showdown, in dem sämtliche Unwägbarkeiten und Mehrdeutigkeiten des Falles im sicheren Hafen der Gewissheit vor Anker gehen, die Schuldigen bestraft und die Wackeren belohnt werden. Für eine kurze Zeit hatte man während des Lesens die Hoffnung, Connelly betreibe sein Spiel mit dem Dokumentarischen konsequent und lasse den Fall wenigstens auf dem Papier unaufgeklärt und die Leser mit dem erlangten Wissen alleine. Aber das wäre zuviel verlangt und, ehrlich, die meisten Leser verlangen natürlich genau das, was Connelly ihnen bietet: einen spannenden und logisch aufgebauten Kriminalroman ohne erkennbare Schwächen in der Ausführung.

Michael Connelly: Vergessene Stimmen. 
Heyne 2006. 478 Seiten. 19,95 €

10 Gedanken zu „Michael Connelly: Vergessene Stimmen“

  1. Bester dpr,
    ich muss Dir recht geben. Ich hatte lange keinen Connelly mehr gelesen, als mir im Sommerurlaub „The Closers“ (d.i. Vergessene Stimmen) und der wohl noch nicht übersetzte „Lincoln Lawyer“ in die Hände fielen. Vor allem letzterer, der das moralische Dilemma eines Anwalts schildert, dem schon bald schwant, dass sein feiner neuer Klient durchaus schuldig ist, gehört zu den besten Kriminalromanen, die ich in diesem Jahr gelesen habe.

  2. Hallo,

    da der „Lincoln Lawyer“ im Jahr 2005 ein Edgar-Nominierter war, folgt ein ausführlicher Text zu diesem Buch in 2 1/2 Wochen. Das Buch gehört sicher zu den herausragenden Bücher des Jahres, aber ich verstehe, weswegen Connelly den Edgar nicht bekommen hat: Er ist einfach ein zu guter Krimi-Autor. Da fehlt „literarisches“.

    Beste Grüße

    bernd

    PS „Krimi“ soll eigentlich kursiv sein, aber der wtd-Server löscht die HTML-Anweisung immer wieder ´raus

    PPS „The Power of the Dog“ gehört für mich zu den ganz wenigen Büchern, die ich noch höher bewerten würde.

  3. Lieber Axel,

    „The Lincoln Lawyer“ hat den Shamus und den Macavity gewonnen. Ja, das soll genügen.

    Nur, es ist doch auffällig, dass Connelly derjenige ist, der mit großen Abstand die meisten US-Krimipreise gewonnen hat. Nur beim Edgar ging er, abgesehen vom „Juniorpreis“ 1993, leer aus. Und das obwohl er dreimal für den Edgar nominiert war.

    Beste Grüße

    bernd

  4. ich geb’s ja zu: das Pathos der erfolgreichen polizeilichen Vergangenheitsbewältigung hat was Deutsches — aber warum verliert dann Fräulein Verloren ihren deutschen Namen (and gets, kalauermäßig, Lost)? Oder hab‘ ich da was nicht verstanden (passiert mir oft)? Schöne Grüße!

  5. dear dpr –
    schreib(t) doch – „Bitte! – immer dazu, wenn Bücher aus dem Nicht-Deutschen ins Deutsche übertragen wurden und von wem, ja? Selbst wenn das Deutsch dann grottig sein sollte. Oder sogar gerade dann. Man kann das Übersetzen gar nicht wichtig genug nehmen – 1. grassiert bei Verlagen die Vorstellung „Krimi = sprachlich schlicht = billig zu übersetzen“ (und so ist dann oft, was hinten rauskommt), 2. brauchen Übersetzer Wahrnehmung (die guten Lobeshymnen, die schlechten Verrisse; man sollte allerdings immer genau aufpassen, wer wirklich schuld ist an schlechtem Deutsch, es MUSS nicht der Ü. sein!) und 3. wollen wir Leser doch immer gern ein Stückchen weiter sein als der seinzeitige ratlose Tuch Kurtolsky, der anhand der ersten deutschen „Ulysses“-Übersetzung grübelte, ob Georg Goyert „einen Mord begangen oder nur eine Leiche fotografiert hat“, gell?
    Aloha, ich muss wieder zu den Anonymen in Aspiek – P.

    P.S. Wer sich gern ausgegrenzt wähnt, darf unbedingt alle Sammelbegriffe auch in der „-innen“-Variante lesen. Wir andern amüsieren uns über die äußerst drollige Nonchalance, mit der die deutsche Sprache die Gesetze der Physik ignoriert: Laut letzteren können kleinere Einheiten in größeren enthalten sein, nicht umgekehrt. Auf Deutsch dagegen sind Leserinnen in Lesern enthalten.

  6. Dein Wunsch ist mir natürlich Befehl, liebe Pieke…ich bin da ein kleiner Schlampert, ich weiß. Und bin, du hast es angedeutet, immer ein bissel gehemmt, wem ich schlechtes Deutsch nun anlasten soll, dem Ü., dem V., dem A., alles auch hier maskulin und feminin (gibts eigentlich auch Verlaginnen?). Ja, die deutsche Sprache. Weniger als zwei HABEN etwas getan (also einer HAT etwas getan). Mehr als einer HAT etwas getan (also mindestens zwei HABEN)…so, und jetzt geh ich mit Pentti Kirstilä ins Bett, übrigens von Gabriele Schrey-Vasara übersetzt, und zwar ganz ordentlich.

    bye
    dpr

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert