Wieder einmal hat Michael Connelly seinen Serienhelden Harry Bosch im Stich gelassen und mit „The Lincoln Lawyer“ einen Krimi geschrieben, der ein wenig quer zu den üblichen Regeln des Genres steht. Diese Buch um den Strafverteidiger Mickey Haller, mit seinen gut gemachten Gerichtsszenen kann man als Gerichtsdrama lesen; aber eigentlich ist Haller nicht nur ein Anwalt der um seine Mandanten kämpft, sondern er ist selber ein Beteiligter, einer der plötzlich für sich selber kämpfen muss. „The Lincoln Lawyer“ ist deshalb wohl eher als Thriller denn als Gerichtsdrama zu bezeichnen.
Tief steigt der Leser ein in den Alltag Mickey Hallers. Seine Aufgabe ist es, schuldige Mandanten ´rauszupauken oder zumindest deren Strafmaß zu reduzieren. Fakten oder die Wahrheit interessieren ihn nicht und nie würde er einen Mandanten fragen, ob dieser die Tat begangen hat, deren er beschuldigt wird. Hallers größte Angst ist, dass einer seiner Mandanten unschuldig sein könnte, denn so ein Angeklagter könnte nur verlieren. Und so streitet er im Gerichtssaal auch nicht über Fakten, sondern er versucht alles, um Zeugen unglaubwürdig zu machen und die Legitimität der Ermittlungen in Zweifel zu ziehen. Strafverfahren also als zynische Theaterstücke. Starker Tobak das. Nicht dass so ein Ansatz ganz neu wäre, aber in einer so klaren Ansprache ist es selten zu lesen.
Geht es im ersten Drittel des Buches noch relativ unspektakulär und undramatisch zu, ist sie dann aber plötzlich da, die dem Autor eigene „Connelly-Spannung“: Packend, emotional dicht, komplex. Einer seiner Fälle entwickelt sich zum Albtraum, und Haller, der sonst Menschen manipuliert, wird selber zum Spielball eines Anderen. Das Buch, welches unkonventionell anfing, entwickelt sich auf hohem Niveau konventionell weiter und überrascht, insbesondere im Mittelteil, durch zahlreiche, die Geschichte zunehmend komplexer machende Wendungen.
Jederzeit spannend, humorvoll und konsequent in der (widerlichen) Darstellung des Rechtssystems. „The Lincoln Lawyer“ hat einen starken Drive. In den Gerichtsszenen ist das Buch streckenweise [man kann es nicht anders bezeichnen] brilliant. Michael Connelly legt mit dem „Lincoln Lawyer“ eines der herausragenden Bücher des Jahres vor. Ohne Frage.
Man mag Connelly als einen der letzten Vertreter des klassischen amerikanischen Krimis beschreiben, der seinen Krimi keiner Agenda unterordnet. Und so überrascht es nicht, dass, obwohl diese Geschichte nicht ohne Folgen für das Weltbild Hallers bleibt, der sich zum inhaltlich engagierteren Strafverteidiger wandelt, „The Lincoln Lawyer“ kein Psychogramm dieser Wandlung ist. So wird er z.B. anfänglich als Vater geschildert, der keine Zeit für seine, bei seiner früheren Frau lebende Tochter hat, später jedoch sorgt er um so intensiver um diese Tochter. Diese Wandlung passiert; sie ist aber nicht Programm des Buches.
Michael Connelly: The Lincoln Lawyer.
Time Warner 2006. 516 Seiten. 8,30 €
(noch keine deutsche Übersetzung)
Lieber Bernd,
Sie wissen, daß ich Ihre Rezensionen mit großer Aufmerksamkeit und mit entsprechendem Gewinn lese — und wenn Sie/sie mich manches Mal mit Fragen zurücklassen, dann scheue ich mich nicht, diese zu stellen (zumal der Entschluß, sich noch einen 500-S.-Connelly anzutun, wohl überlegt sein will):
Ich bin zunächst am Titel dieses Romans hängen geblieben, schon weil ich die Vermutung habe, daß grad Connelly auf diese Teile seiner Texte großen Wert legt: bei „Lincoln“ kommen diverse populäre Ikonen in den Sinn, aber ganz zuerst gewiß „Young Mr. Lincoln“, auch ein Rechtsanwalt, um dessen Schauseite in den letzten ein, zwei Jahrzehnten einige Diskussionen geführt wurden, die, drum kam ich zuerst drauf, stets einen Bezug zum Rechtssystem der USA (und zu seinem Wandel) hatten. Dieser Bezug scheint jedoch durch Verdeckung hergestellt zu werden, denn wenn ich Connellys Website richtig lese, dann ist unmittelbar der „Lincoln Town Car“ gemeint, der in manchen Aspekten für die Amerikaner jene Funktionen erfüllt, die vor langer Zeit dem DS von Citroën zugeschrieben wurden.
Meine Vermutung (die auf allzu geringer Kenntnis der Texte beruht) geht dahin, daß Connellys ‚Projekt‘ (dem sich alle oder die meisten seiner Romane unterordnen) in der Auseinandersetzung mit den Alltagsmythen der Amerikaner besteht: Autos, Polizei, Rechtssystem (sie schreiben: „konsequent in der (widerlichen) Darstellung des Rechtssystems“), Massenmedien, zuletzt eben auch die Crime Literature selbst.
Kann man das bestätigen, oder wenigstens als Lesemodell akzeptieren, das über die Rezeption des je aktuellen Textes hinausginge?
Mit der Bitte um Verständnis und mit den besten Grüßen!
Lieber JL,
eine schwierige Frage. In der Tat scheint sich die Assoziation des „Young Mr. Lincoln“ (http://tarlton.law.utexas.edu/lpop/etext/lsf/rosenberg15.htm) aufzudrängen. Ich sehe da nur keine Möglichkeit diese anhand des Textes zu bestätigen.
Ich bin in meinem Text nicht weiter darauf eingegangen, weil es in allen Besprechungen vorkommt und weil es für meine Deutung nicht relevant ist, aber ja, der gute Haller sitzt im ersten Drittel des Buches, statt im Büro, tatsächlich im Lincoln und lässt sich, wenn er nicht gerade einen Termin hat, von seinem Chauffeur von Ort zu Ort fahren. Währendessen bereitet er in bester hektischer Managermanier diese Termine vor.
Was Ihre Frage betrifft, steckt meine Deutung Connellys im Text. Für mich ist Connelly der herausragende (und vielleicht letzte) Klassiker des US-Krimis, der eben nicht „überladen“ von einem Subtext und nicht zwanghaft „Literarisch“ außergewöhnlich spannende Romane schreibt.
Dieses ist auch meine persönliche und subjektive Erklärung dafür, dass Connelly bei allen US-Krimipreisen, die viel mehr Leserpreise sind als der Edgar, der erfolgreichste Autor ist, während er beim Edgar drei (auch recht viel) Nominierungen hat, aber nie (der „Junior-Award 1992 zählt nicht in dieser Kategorie) Erfolg hatte.
Dass eine derartige Qualität nicht ohne ernsthaften Rückbezug („Alltagsmythen der Amerikaner“) funktioniert, ist klar. Aber genauso wie die Stilisierung des Lincolns als Büro im weiteren Verlauf des Buches zurücktritt, so spielt auch die Bedeutung des Gerichtssaals eine abnehmende Bedeutung. Nein, ich würde dieses Buch nicht so „überhöhen“ wollen, wie Sie es andeuten. Aber möglicherweise würde Sie nach der Lektüre zu einem anderen Ergebnis kommen.
Ich bin kein hinreichender Kenner des Gesamtwerks Connellys, aber mir scheint, dass er seine Sonderklasse auch dadurch erhält, dass er grundsätzliche neue strukturelle Kniffe findet („Crime Literature“).
Beste Grüße
bernd
Lieber Bernd,
schönen Dank für die Antwort, die meine Spekulation (die ihre Komplexitätsvermutung auf ein einziges Indiz gründet) immerhin zuläßt! (Den Rosenberg-Text zu YML kannte ich noch nicht: also doppelten Dank.)
Beste Grüße!