Wer an dieser Stelle eine Rezension von Pablo De Santis’ „Die sechste Laterne“ erwartet, wird enttäuscht. Eine Rezension ist ein Bauwerk, mit, so steht zu hoffen, tragfähigem Fundament, mehreren logisch hochgezogenen Etagen und einem Dachboden mit schiefen Wänden, auf dem gerade Platz ist für die Crux des Ganzen, einen euphorischen oder wohlwollenden oder vernichtenden Satz. Der aber verbietet sich hier; denn eines lehrt uns De Santis’ gewiss: Setze die Häuser, die du im Kopf errichtest, bloß nicht in die Welt.
Eines der wahrhaftigsten Bilder über das Lesen entnehmen wir Edgar Poes „Das Geheimnis um Marie Roget“. Auguste Dupin klärt dort als prototypischer „armchair detective“ den Fall des mysteriösen Todes einer jungen Frau durch bloßes Studium der Presseberichte, er wägt ab, schickt Informationen durch seine logischen Systeme, korrigiert, verwirft, kommt zu Schlüssen, stellt fest. Kurzum: Er handelt so, wie Menschen es immer tun, die ihr Lesemodell während der Lektüre entwickeln.
Diese Lesemodelle sind architektonische Leistungen. Am Ende haben wir ein gedankliches Bauwerk errichtet, wenn auch Statik und Wohnwert der gesonderten Überprüfung bedürfen. Lesen wir Kriminalromane, ist das so, als schauten wir Architekten wie Dupin bei der Arbeit zu und ließen uns von ihnen zu eigener Bautätigkeit inspirieren.
Pointieren wir weiter: Alle Literatur ist Kriminalliteratur, weil alles Lesen architektonischen Regeln folgt. Mancheiner errichtet völlig neue Bauwerke, die mit dem Ausgangsmaterial Text nichts zu tun haben; andere, die meisten wohl, halten es mit Auguste Dupin, der Texte mit Hilfe seines Intellekts bewohnbar macht und Nutzen daraus zieht. Schlechte Kriminalliteratur, diese Bemerkung muss sein, ist wie das Ausmalen von Vorlagen oder das imitierende Nachbauen von Plattenbausiedlungen.
Der Fall der armen Marie Roget ist für Dupin zunächst ein Konvolut diverser Nachrichten. So wie Dupin sie behandelt, haben sie lediglich Symbolcharakter, und hinter den Symbolen verbirgt sich die Wahrheit des eigentlichen, des ungeschriebenen Textes. Ihn gilt es zu entschlüsseln.
Wir wollen im folgenden De Santis’ Roman in ähnlicher Weise entsymbolisieren. Nach kurzem Inhaltsabriss werden dem Leser, der sich unvermittelt in der Rolle Dupins wiederfindet, acht „Berichte“ genannte Bausteine des Buches vorgelegt, gewissermaßen Beschreibungen des Tatorts, der Tat selbst und der darin verwickelten Personen. Danach werden wir als zünftige armchair detectives das Gerüst eines Lesemodells bauen. Genau darum nämlich geht es in „Die sechste Laterne“ – und auch darum, dass der Versuch, den Text zur Gänze auslesen zu wollen, zum Scheitern verurteilt ist.
Dieses Scheiternmüssen sollte der Leser dieser Seiten am eigenen Leib erleben, indem er, gestärkt und gleichzeitig geblendet durch das „Lesemodell“, De Santis’ Text selbst liest. Glaubt er ihn hernach verstanden zu haben, ist entweder er gescheitert – oder das Buch. Wohlan.
„Die sechste Laterne“ führt uns durch das Leben des Italieners Silvio Balestri, der, von Architektur besessen, nach Amerika auswandert (in Europa wütet der Erste Weltkrieg), sich dort in einem Architektenbüro aus dem Kopistenkeller bis in die Chefetage hocharbeitet, ein Projekt namens „Zikkurat“ verwirklichen möchte, hinter dem sich nichts Geringeres als ein neuer Turm zu Babel verbirgt, scheitert, schließlich seine Sprache verliert, als Legende der theoretischen Architektur stirbt. Auf der Überfahrt in die Neue Welt lernt Balestri seine erste Frau kennen und heiratet sie. Nicht aus Liebe, sondern weil die Konstellation der Umstände nichts anderes zulässt. Die Frau verschwindet eines Tages, taucht nach Jahren wieder auf, verschwindet abermals und wird schließlich tot aufgefunden. Das ist, neben anderen merkwürdigen Begebenheiten, der Kern des „Kriminals“.
1. Bericht: ein seltsames Museum in New York City
Bald nach seiner Ankunft in New York, unmittelbar nach einem ersten, negativ endenden Vorstellungsgespräch, entdeckt Balestri das Museum der Herrn Caylus. Es enthält ausschließlich Modelle von Bauwerken, die nicht realisiert wurden. „Die Gebäude dieser Sammlung haben eins gemeinsam: Es sind einzigartige Originale. Hier ist nur Platz für all jenes, was scheiterte, was vergessen wurde.“
2. Bericht: ein zweiter Turm zu Babel„Zikkurat“, Balestris visionäres Projekt eines Über-Wolkenkratzers, bedeutet die Wiederkehr von Babel, natürlich. Die große Sprachverwirrung, das Scheitern unmittelbarer Kommunikation als Strafe für den Frevel, sich mit Gott auf eine Stufe zu stellen. Dies ist die erste Interpretation, Balestri nennt sie „die Bestrafung des Menschen für seinen hybriden Ehrgeiz“. Der Architekt freundet sich zunächst mit einer zweiten Interpretation an, der „linguistischen“, bei der „Zikkurat“ von „dieser Sprachverwirrung (ausgeht), um die einzelnen Sprachen in der einen, reinen der Architektur wieder zu vereinen.“ Letzlich jedoch gewinnt eine dritte Interpretation des Babel-Mythos die Oberhand: „Zikkurat“ als „das Bemühen, etwas zu schaffen, von dem man wusste, dass es unmöglich war, um auf der Erde eine Spur dieses utopischen Wunsches zu hinterlassen.“
3. Bericht: ein Dichter namens Kafka
Man muss nicht einmal wissen, dass „Oskar Pollak“, Balestris Freund und intellektueller Widerpart der frühen Jahre, im wirklichen Leben auch ein Freund Franz Kafkas war, um die schmächtige und anämische Gestalt des Prager Versicherungsmathematikers an jeder Ecke des Romans zu sichten. „Amerika oder Der Verschollene“, „Das Schloss“ begleiten uns auf Schritt und Tritt, verleiten uns zu der voreiligen Feststellung, De Santis’ Roman sei „irgendwie kafkaesk“ (etwas, das immer dann behauptet wird, wenn man einen Text nicht versteht, es aber nicht zugeben möchte). Halten wir nur fest: Ja, Kafka ist zu sehen. In welcher Funktion, das wird sich noch zeigen.
4. Bericht: das Gebäude der Architektenfirma Moran, Morley & Mactran
Natürlich ganz offensichtlich „kafkaesk“. Hier beginnt, im Wortsinne, Balestris Aufstieg, durch eine bizarre Welt aus Intrigen und sonderbaren Kommunikationsformen, tristester Arbeit und abenteuerlicher Werksspionage.
5. Bericht: Jack der Schornsteinfeger
Eigentlich eine Witzfigur aus dem Radio, eine Spielzeugpuppe. „Jack schlich sich nachts heimlich durch den Kamin zu Familien, die Probleme hatten. Sehen aber konnten ihn nur die Kinder. Nie erklärte er jemandem, warum er tat, was er tat, und ob er ein Außerirdischer oder ein Sterblicher war. Jack löste das Problem und verschwand.“ Im Roman ist Jack der Schornsteinfeger der Spitzname des Boten des Clubs.
6. Bericht: der Club
Eines Tages sucht Jack der Schornsteinfeger Balestri auf und stellt sich als Vertreter des „Clubs der sechs Laternen“ vor. Dessen Zielsetzung erklärt Jack wie folgt:
„Ab einer gewissen Höhe regieren wir. Egal, in welchem Land. Die Hochhäuser sind bedeutsame Symbole, und wir haben dafür zu sorgen, dass sie die richtigen Botschaften aussenden.“Balestri fragt nach: „Und was sind das für Botschaften?“
Jack antwortet: „Dass es keine gibt. Keine Botschaft. Keine Bedeutung. Nichts.“
Jack fordert Balestri auf, nicht weiter nach der Person zu suchen, die bei Moran, Morley & Mactran offensichtlich ihr Wissen auch der Konkurrenz zur Verfügung stellt. „Wir wollen gar nicht, dass innovatives Wissen nur einem Unternehmen gehört“, führt Jack weiter aus und: „Unsere wirklichen Feinde sind die Fahnenträger der Bedeutung.“
7. Bericht: der Name des Clubs
Warum „Club der sechs Laternen“? Mactran, der wir seine beiden Gesellschafter, ebenfalls Mitglied des Clubs ist, erzählt, bei der Gründungsversammlung hätten sieben Bronzelampen im Raum gehangen, welche an „Die sieben Leuchter der Baukunst“ erinnerten: Opfer, Wahrheit, Macht, versinnbildlichte Schönheit, Leben, Gedächtnis, Gehorsam. Es brannten aber nur sechs von diesen Laternen, die sechste brannte nicht: das Gedächtnis. Daher der Name des Clubs. Und daher der Name des Buches: Die sechste Laterne. Oder: Das Gedächtnis. Oder: Die Erinnerung.
8. Bericht: Kriminalroman
Einem Liebhaber von Mord, Totschlag und der sauberen „Ausermittlung“ des Falles wird schwerlich klarzumachen sein, warum es sich bei „Die sechste Laterne“ um einen Kriminalroman handelt, da ganz offensichtlich das Vorhaben, uns auf übliche Genreart zu unterhalten, an seiner Unvollständigkeit scheitert. Die Morde sind möglicherweise keine Morde – ein Täter wird nicht ermittelt – das Spionagethema verläuft im Sande – der „Club“ ist ein Käfig mit zahnlosen Tigern.
Nachdem Dupin alle Berichte gelesen hat, sucht er das ihnen Gemeinsame, die Basis dessen, was sich an Wohnraum in den Himmel der Erkenntnis bauen lässt. Er wird rasch fündig und notiert: „Scheitern“. Das Museum des Herrn Caylus ist der Ort, an dem sich das Scheitern manifestiert, Babel Sinnbild für das Scheitern schlechthin. Balestri, der „Zikkurat“ unablässig in seinen Gedanken erbaut, auf Papier skizziert, scheitert an der Umsetzung. Von Zikkurat zeugt nur ein riesiges Loch in der Erde, ein Loch, das niemals ein Fundament sehen wird.
Dupin beschäftigt sich mit Kafka, dem Allgegenwärtigen. Ist Kafka ein Gescheiterter? Führt ihn De Santis in die Geschichte ein, um uns genau das in seinen Anspielungen zu suggerieren? Dupin zweifelt. Kafka selbst betrachtete sich als gescheitert, er wünschte keine postumen Veröffentlichungen, dieser Wunsch wurde ihm nicht erfüllt. Die Frage des Zeitpunktes. War Kafka gescheitert, als er „Das Schloss“ in seinem Kopf hatte, es immer wie aus seinem Gedächtnis zerrte, weiter an ihm arbeitete? Oder war Kafka gescheitert, als er „Das Schloss“ zu Papier gebracht hatte? Oder fürchtete er, gescheitert zu sein, wenn das „Schloss“ veröffentlicht sein würde? „Zikkurat“. All die schönen Ideen Balestris scheitern schon in dem Moment, in dem er sie in Sprache ausgießt. Als Theoretiker wird Balestri angefeindet, aber vor allem bewundert, gefeiert. Verstehen tut man ihn nicht, ganz im Gegenteil. Als Praktiker scheitert Balestri noch einmal, denn „Zikkurat“ kann nur gebaut werden, wenn es nicht gebaut wird.
Das Scheitern ist somit, denkt Dupin, nicht dem Umstand der Nichtvollendung geschuldet, sondern dem Umstand der Verwirklichung. Balestris „Zikkurat“ befindet sich in einem Zwischenreich. Nicht mehr bloßes Gedankenspiel, noch nicht in den Himmel ragendes Monument. Es ist der Zustand einer Idee zwischen ihrem bloßen Vorhandensein als Idee und ihrer (sprach-)architektonischen Verfestigung. „Zikkurat“ ist – wie Kafkas Werk – ein Gedankengebilde, das man soeben in Sprache gegossen hat, und die Sprache muss instabil sein, noch nicht erstarrt. Babel. In Babel verwirrte sich die Sprache, als man sie in einem Turm manifestierte.
Das Geschäftsgebäude von Moran, Morley & Mactran ist ein solcher babylonischer Turm, in dem Sprache, so sie einmal fest geworden, man mit ihr kommuniziert, nur noch für Verwirrung sorgt. Das Geschäft indes, die Realisierung von Ideen, funktioniert, die Firma floriert, denn das ist die raue Wirklichkeit. Der Mensch profitiert immer nur vom Scheitern seiner Ideen und verhungert, wenn sie nicht scheitern. In diesem Gebäude nun sehen wir Franz Kafka umherirren, es ist nicht „das Schloss“ aus seinem gleichnamigen Roman, es ist dieser Roman als Verwirklichung von Ideen selbst. Kafka ist postum gescheitert, weil seine Sprache zu Schrift erstarrt ist, seine Ideen zu Wirklichkeit, zu Produkten.
Dupin fasst vorläufig zusammen. Pablo De Santis erzählt in „Die sechste Laterne“ von jenem merkwürdigen Schwebezustand zwischen den Ideen im Kopf und den Ideen in Stein und auf Papier. Er betrachtet seinen Helden, entgegen der landläufigen Meinung, nicht deshalb als gescheitert, weil er seine Ideen nicht verwirklicht. Balestri ist ein Opfer des Manifesten, des Deutbaren, das, weil es deutbar geworden ist, seine Bedeutung verloren hat. Jetzt widmet sich Dupin dem „Club der sechs Laternen“ und erinnert sich, dass dieser alle Bedeutung leugnet. Aber warum? Weil, als man den Club gründete, etwas fehlte: die Erinnerung.
Die Erinnerung, folgert Dupin, ist der Zustand des Unfertigen. An den Eiffelturm kann man sich nicht erinnern, weil es ihn als Monument gibt. An Kafkas „Schloss“ ebenso wenig, es liegt in jeder Buchhandlung aus. Erinnerung ist der Zustand, in dem die Worte, die man den Ideen überschüttet, wenn sie noch im Kopf sind, noch ihre Vieldeutigkeit bewahrt haben. Weil jedes Sicherinnern nichts weiter ist als das Modellieren an den Gedanken, ein ständiger, niemals abgeschlossener Prozess, nichts, was sich – wie der Eiffelturm, wie Kafkas Werk – einfach so besichtigen und bewohnen ließe, indem man es betritt.
Jeder literarische Text, schließt Dupin, ist, wie alle Architektur, ein Bauwerk, das man in seine eigenen Erinnerungen ziehen muss, um ihm Bedeutung zu verleihen. Was dabei herauskommen kann, hat Modellcharakter und ist flüchtig.
Dupin erinnert sich darin, ein Detektiv zu sein, dem es um die Aufklärung von Verbrechen zu tun ist, und plötzlich weiß er, dass die Aufklärung von Verbrechen und das Erstarren von Sprache eins sind: Scheitern. Sobald er die Verbrechen, die in „Die sechste Laterne“ zur Sprache kommen, aufklärt, hat er das flüchtige Modell, als das De Santis diese Verbrechen vorweist, unzulässig manifestiert. Wenn er Balestri des Mordes an seiner Frau bezichtigt (oder Caylus; Dupin plädiert eher für Caylus), hat er die Idee des Romans verraten. Er hat einen Turm gebaut, der für die Unmöglichkeit einer Lösung steht.
Dupin ketzert: Kriminalromanen, die mit Lösungen aufwarten, fehlt die Erinnerung. Sie sind gescheitert, weil sie von der Wirklichkeit draußen für gelungen gehalten, für abgeschlossen.
Dupin legt schnell den Stift aus der Hand: Er muss jetzt aufhören, solange seine Idee von „Die sechste Laterne“ sich noch wie frisch in die Form gegossener Beton bearbeiten lässt. Er muss seine Idee zu einem Teil der Erinnerung machen, so wie Kafkas nachgelassene Werke in Kafka ruhen, weil sie für ihn nicht Buch geworden sind.
Nachschrift: Die Geschichte, die Edgar Poe in „Marie Roget“ erzählt, basiert auf einem authentischen Fall, der zum Zeitpunkt der Niederschrift noch ungelöst war. Poe ließ Dupin den Fall lösen, Dupin war erfolgreich – die Wirklichkeit jedoch sah anders aus, dort war nicht der von Dupin überführte geheime Liebhaber der Mörder, nein, Marie Roget, die in Wirklichkeit Marie Rogers hieß, starb an den Folgen einer Abtreibung. Ihr Schicksal war, als sich Dupin damit beschäftigte, eine Idee, und diese Idee starb in dem Moment, als ihr Schicksal Wirklichkeit war.
Lesen, erkennen wir, ist das Zerstören von erstarrter Sprache. Die Rückverwandlung von faktischer Wirklichkeit zu Ideen, die wir im Gedächtnis behalten, um uns immer wieder aufs Neue an sie zu erinnern. Bis die Türme des Faktischen unter ihrem Eigengewicht eingestürzt sind und nur noch als labile Modelle des Unvollendbaren in uns existieren.
Pablo De Santis: Die sechste Laterne.
Unionsverlag 2007
(Original: „La sexte lámpera“, deutsch von Claudia Wuttke).
247 Seiten. 19,90 €