Milo Milodragovitch, eigentlich alt genug in Rente zu gehen, finanziell versorgt dank seines letzten Auftrags als Privatdetektiv, der ihm Unmengen an schmutzigem Geld bescherte, sitzt mitten in Texas, als Barbesitzer und Geldwäscher in eigener Sache, verbandelt mit einer attraktiven Frau. Alles könnte eigentlich einfach und schön sein. Eigentlich.
Doch je mehr die Liebe verblasst, desto mehr beginnt sich Milo zu langweilen und den Staat Texas und seine internen, familiären Machtstrukturen zu hassen. So besorgt er sich erneut eine Lizenz als Privatermittler, jagt allem hinterher, was sich ihm anbietet. Auf der nicht besonders nervenzerfetzenden Suche nach der sprunghaften Ehefrau CJ Warren stößt er auf den hünenhaften Enos Walker, der nach einer Kneipenschlägerei, die Milo als Chronist begutachten darf, einem windigen Barbesitzer weite Teile seines Kopfes raubt. Unangerührt bleiben die Kokainvorräte des toten Mannes, die sich Milo selbst gern unter den Nagel und später die Nase reißt, bzw. reibt.
Und plötzlich sitzt er mittendrin im tiefsten Schlamassel. Die Begegnung mit Walker lässt sein nicht allzu beschauliches Leben komplett aus dem Ruder laufen. So wird er in eine attraktive Falle gelockt, darf als mutmaßlicher Polizistenmörder seine Unschuld beweisen, muss mehrfache Misshandlungen über sich ergehen lassen, jagt einer Sehnsucht hinterher, findet erfüllte Momente in der Nähe der Frau, die ihn in die Falle gelockt hat und steckt am Ende ganz tief im Morast einer inzestuösen Familiengeschichte; in einem Gewirr aus Habgier, Machtbesessenheit und der Angst den gewohnten Status Quo zu verlieren. Showdown. Menschen sterben oder landen auf irgendeinem Abstellgleis; Milo verlässt Texas und schwört Stein und Bein nie wieder zurück zu kehren.
„Land der Lügen“ macht es seinen Lesern nicht leicht. Auf den ersten Blick eine typische, harte und schnörkellose Detektivgeschichte, entpuppt sich der Roman bei genauerem Hinsehen als topographisches Schreckensbild, als bitterböse Familiensaga, dichter bei Jim Thompson angesiedelt als bei Raymond Chandler. Der Begriff „Familie“ zieht sich durch’s gesamte Buch, weniger als roter Faden, denn als Modell unterschiedlichster Bindungen, die Menschen eingehen. Von den niedersten Instinkten, Verrat, Mord und Inzest bis zu Aufopferung, Mitleid und intensiver Verbundenheit finden sich viele der Aspekte, die den Topos Familie ausmachen. Und natürlich hat dieses Beziehungsgeflecht nicht unbedingt etwas mit Genetik zu tun; manchmal findet Milo tiefe Loyalität dort, wo er’s gar nicht erwartet.
So nimmt es auch nicht Wunder, dass der, bzw. die Kriminalfälle des Romans eher Schwachpunkte darstellen. Da zaubert Crumley schon mal Lösungen aus dem Hut, die man schlucken muss; da verlieren sich Figuren und Motive im breiten Fächerwerk des Personals, das Crumley aufbietet, um Milo und uns zu verwirren. Das gelingt mitunter prächtig; wer Pausen beim Lesen einlegt, kann davon ausgehen, die ein oder andere Romanfigur aus den Augen zu verlieren oder ganz zu verpassen. Ist natürlich die beste Motivation das Buch ein zweites Mal zu lesen und sei es festzustellen, dass der Roman arschkalt und spröde ist, und sei es, um Milos Behauptung zu belegen, dass Montana das „eigentliche“ Texas ist. „Land der Lügen“ verlangt einiges von seinen Lesern: mitdenken, Augen zudrücken ob der Ungereimtheiten, Verständnis für eine sehr liberale Drogenpolitik, das Mythische Realität werden zu lassen und mehr. Aber: es gibt kein Gejammer; auf die ein oder andere Art akzeptiert jedes noch zu rettende Wesen, dass das, was gerade passiert auch die Chance ist, etwas zu ändern. Diejenigen, die dies nicht erkennen sind unweigerlich verloren. Und sei es nur in sich selbst. Einem Selbst, das stinkt.
PS.: Ein ganz großer Fehler wäre es, die James Crumley Lektüre mit dem „Land der Lügen“ zu beginnen. Seht euch – antiquarisch (?!) – nach dem tanzenden Bär, dem letzten echten Kuss und den folgenden Milodragovitch/ Sughrue Büchern um. Es lohnt sich.
PPS.: “Der letzte echte Kuss“ ist das Herz, das uns der Privatdetektivroman rausschneiden kann.
James Crumley: Land der Lügen.
Shayol Verlag (funny crimes) 2007
(Original: "The Final Country", 2001, übersetzt von Katrin Mrugalla).
344 Seiten. 14,90 €