Crime School – das Partywissen -1-

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Was ist das eigentlich, Krimi? Wo kommt er her, wie hat er sich entwickelt, was sollte ich wissen, wenn mich jemand danach fragt? Die zweite Staffel der „Crime School“ möchte das Wissen vermitteln, das Sie zum Mittelpunkt jeder Intellektuellenparty macht, wenn die Stimmung feuchtfröhlich ist und die Sitten so enthemmt sind, dass man auf „das Kulturelle“ zu sprechen kommt. Partywissen. Aber nicht nur. Was wir hier in loser Folge erörtern, dient auch als Grundlage einer papiernen „Crime School“, die im nächsten Jahr erscheinen soll. Didaktisch aufbereitet, tiefergehend. Wer unseren Internetkurs besucht, wird sich das nötige Basiswissen erarbeiten können, um dann mit Hilfe des Buches darauf aufzubauen. Beginnen wir mit einer sehr leidigen Frage: Was war eigentlich der erste deutsche Krimi? Gab es das überhaupt vor Friedrich Glauser? Krimis? Ein Überblick, der nicht alles erklären kann, aber einen Rahmen um die disparaten Dinge legt.

Zugegeben: Die Frage nach „dem ersten deutschen Krimi – Sie sind doch Experte, gelt?“ gehört nicht zu den üblichen, mit denen man bei gesellschaftlichen Anlässen konfrontiert wird. Da müsste einer schon viel Alkohol intus haben – aber noch besoffener müsste man sein, die Frage mit einem souveränen „Ja, also das war…“ beantworten zu wollen. Gehen wir also ganz nüchtern, ganz systematisch vor.

Es ist zunächst eine Abgrenzungsfrage. Wann reden wir von „Verbrechensliteratur“ (Antike, Shakespeare, Schiller und Co.), wann von „Krimi“? Antwort: Verbrechensliteratur thematisiert das Verbrechen als Vehikel für Moralisch-Aufklärerisches – Krimi hingegen macht die Untersuchung und Aufklärung von Verbrechen zum zentralen Sujet. Das klingt einleuchtend – ist es aber nicht, gerade die frühe deutsche Kriminalliteratur wird sich, wie wir noch sehen werden, nicht entscheiden können, was sie eigentlich sein will – etwas, das sie mit der heutigen Kriminalliteratur verbindet. Die wirklich revolutionären Krimis besitzen daher noch ein anderes Merkmal: Sie machen das Verbrechen zum reinen Denksport, zum baren Thrill. Kurz: Sie sind durch und durch trivial.

Der diese Entwicklung auslöste, war ganz und gar nicht trivial: Edgar Poe. Und doch schuf er die Blaupausen: Es gibt einen Ermittler, es gibt ungelöste Kriminalfälle, und der Ermittler – ein Privatgenie – löst diese Fälle dank seiner induktiven und deduktiven Fähigkeiten. Der Leser vermag dies theoretisch nachzuvollziehen, er steht wie der Ermittler vor einem Rätsel, er wird in Spannung versetzt, er kombiniert selbst, ohne natürlich die Klasse des Ermittlers zu erreichen. Dieser stützt sich auf Indizien. Das ist ganz wichtig. Er ist Positivist, er glaubt an die Erklärbarkeit des „Realen“, verkörpert ergo den Typus des Beherrschers einer immer komplexer, weil technisierter werdenden Welt.

Hier nun flechten wir lächelnd ein: Poe, schön und gut. Aber bereits 1828 gab es eine deutsche Novelle, die solche genregenerierenden Basiskonstrukte vorwegnahm: →Adolph Müllners „Der Kaliber“. Ganz kurz: In „Der Kaliber“ steht ein Untersuchungsrichter vor der Aufgabe, den Mord an einem Kaufmann aufzuklären. Das Verbrechen geschieht in dunklem Wald, eine Räuberbande ist ganz offensichtlich involviert, der Begleiter des Ermordeten, sein Bruder, kann fliehen und die Tat zur Anzeige bringen. Völlig überraschend ist es dieser Bruder, der die Ermittlungen obsolet werden lässt, denn er gesteht, selbst der Täter zu sein. Den Ermittlungsrichter hätte also lediglich die Frage des Vorsatzes zu interessieren: Unglückliche Umstände oder geplanter Mord (die Brüder konkurrieren um eine Frau – das dürfte immer Motiv genug sein)? Doch jetzt wird es modern, der Ermittler nämlich vermag sich für keine der naheliegenden Versionen zu erwärmen, er sucht nach FAKTEN, nach Indizien – und findet sie schließlich in Form der Todeskugel und deren Kaliber.

Müllners Novelle könnte also mit Fug und Recht als „erster deutscher Krimi“ bezeichnet werden, Schule indes macht sie nicht. Noch war das „Genre“ ein zartes Pflänzlein, nicht in dem Maße standardisiert, als dass überhaupt von einem solchen Genre die Rede hätte sein können. Müllners Ermittler ist keine Identifikationsfigur, kein kombinatorisches Genie, eher ein bedächtiger Arbeiter, das Ganze zu wenig „trivial“, um als role model zu taugen. Dieses wiederum entwickelt sich, ausgehend von Poe, tatsächlich im angelsächsischen Raum, Stichwort Conan Doyle, und kapert sehr rasch und endgültig auch den deutschsprachigen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts ist Deutschland das Land der Sherlock-Holmes-Klone, ein gutes halbes Jahrhundert Eigenständigkeit ist – bis auf den heutigen Tag! – verschüttet. Und lohnte es doch, wieder ausgegraben zu werden.

Denn es gibt eine deutsche Krimitradition! Sie geht einher mit der Trivialisierung, diese wiederum ist dem Aufkommen der Familienzeitschriften Mitte des 19. Jahrhunderts geschuldet. Allerdings ist diese Trivialisierung, also das Bestreben, profan und spannend zu unterhalten, selten so ausgeprägt, dass sie als „Trend zum Genre“ zu bezeichnen wäre. Natürlich gibt es furchtbaren Schund, herrlich-grausige Schmonzetten, aber eben auch den „anspruchsvollen Kriminalroman“, den „mehr-als-Krimi“, jenen Bastard Verbrechensliteratur meets Crime also. Nebenbei: Die Bezeichnung „Kriminalroman“ dürfte, wenn man mich nicht eines Besseren belehrt, auf →„Zahlheim – Ein Wiener Criminalroman“ des Österreichers Adolph Bäuerle (1856) zurückgehen, ein Fall aparterweise, den wir heute „true crime“ nennen würden. Aber da beginnt schon das nächste Problem mit dem Deutschkrimi. Denn nicht überall dort, wo „Krimi“ draufsteht, ist auch Krimi drin und, noch schlimmer, häufig steht eben NICHT Krimi drauf, wo Krimi drin ist. Da hilft auch das äußerst verdienstvolle Werk Mirko Schädels, die →„Illustrierte Bibliographie der Kriminalliteratur“ nur bedingt weiter, denn natürlich konnte auch dieser Berserker nicht sämtliche Romanliteratur des 19. Jahrhunderts durchforsten, um alles „Krimirelevante“ ans Tageslicht zu befördern.

Zurück zur deutschen Krimitradition. Die Familienzeitschriften sind wichtig, sagte ich, „Die Gartenlaube“ an erster Stelle und hier, ganz vorne, die Novellen von →J.D.H. Temme. Temme will unterhalten (weil er Geld verdienen muss), aber er schwenkt nie auf das zukunftsträchtige Gleis des „Ermittlergenies“ und des „Kriminalfalls um des Rätsels und seiner Auflösung Willen“ ein, er ist immer auch Zeit- und Justizkritiker, Aufklärer, politisch interessierter Autor. Gleichwohl ist Temme auch als Stilist zukunftsweisend, sein „In einer Brautnacht“ der erste „noir“ der Krimigeschichte.

Überhaupt ist das „gesellschaftskritische“ Element deutscher Kriminalliteratur zwischen etwa 1850 und 1880 so evident, dass man es unbedingt erwähnen muss. Einige der Autoren (Temme, →Streckfuß) waren Opfer der Restauration, Protagonisten des 1848er Aufstands, andere nutzten den Kriminalroman als Plattform, ein relativ breites Publikum mit den maroden Zuständen der Gesellschaft, der Politik bekannt zu machen. Hier sei eine FRAU vor allen anderen genannt, Emilie Heinrichs mit ihren „Roman aus der Gegenwart“ (also NICHT „Kriminalroman“ und folglich bei Schädel auch nicht verzeichnet) von 1866, „Leibrenten“. In ihm spiegeln sich Glanz und Elend der deutschen Kriminalliteratur geradezu paradigmatisch wider.

In „Leibrenten“ geht es um eine Reihe von Verbrechen. Man versucht, einen sehr tumben Landadligen um seine Liegenschaften zu bringen (der Titel „Leibrenten“ bezieht sich darauf), eine Frau wird erpresst, innerhalb eines Duodezfürstentums wird mächtig intrigiert, ein Mann wird aus Habgier ermordet (der Fall wird nicht aufgeklärt), ein anderer aus politischen Gründen (ebenfalls unaufgeklärt). Es gibt keinen Ermittler, aber einen Protagonisten, der zeitweise in die Rolle des Ermittlers schlüpft. Er ist aber kein „Übergeist“, sondern ein ehemaliger, im Dienste seines Vaterlandes zum Krüppel geschossener Ex-Offizier, und er scheitert auf tragische Weise, während die Überlebenden – die Opfer – am Ende resigniert den deutschen Zuständen den Rücken kehren und nach Amerika auswandern. Zusammengehalten wird das Ganze von diversen Liebesgeschichten, die aber niemals vor Schmalz triefen. Summa: Ein vorzüglicher KRIMINALROMAN, der seiner Zeit weit, weit voraus ist, ein Protagonist von Marlowe-Format, eine Story, die, wäre sie von Henning Mankell, einem heutzutage von allen krimisüchtigen Tinis und Binis aus den Händen gerissen würde – allein: vergessen.

Vergessen auch der eher „psychologische“, dabei jedoch zumeist auch „gesellschaftsrelevante“ Strang der deutschen Krimientwicklung, von Carl von Holteis →„Schwarzwaldau“ (1856) bis Ernst von Wildenbruchs →„Das wandernde Licht“ (1893). Kriminalromane, die, heute veröffentlicht, sämtliche Glauser- und DKP-Plaketten abgreifen würden – believe it or not.

Fassen wir fürs erste zusammen: Die Geschichte des deutschen Kriminalromans beginnt mit Adolph Müllners „Der Kaliber“, die Trivialisierung zum „Genre“ mit dem Aufkommen der Familienzeitschriften um 1850. Die eigentlichen „Kriminalromane“ vermögen sich indes nicht vollständig von ihren „aufklärerischen Wurzeln“ (Verbrechensliteratur!) zu lösen, das Rätsel- und Thrillpotential voll auszuschöpfen. Sie sind sehr wohl AUCH Unterhaltungsliteratur, verpassen jedoch den Durchbruch zum „Krimi“, wie er in England mit Conan Doyle gelingt, dessen Einfluss wiederum die eigentliche deutsche Tradition fast vollständig verschüttet.

Im Doyle-Gefolge entstehen im deutschsprachigen Raum Krimis mit „Serienhelden“ a la Holmes (zu nennen die beiden ÖsterreicherInnen →Auguste Groner und →Balduin Groller), eine Tendenz, die sich nach dem 1. Weltkrieg fortsetzt (etwa mit →Walther Kabels Seriendetektiv Harald Harst – es gibt zudem Sherlock-Holmes-Theaterstücke, u.a. von →Ferdinand Bonn, sowie Sherlock-Holmes-Parodien, die wohl schönste stammt von Robert Kohlrausch, „In der Dunkelkammer“, 1903). Spätestens mit dem – vor etwas mehr als 100 Jahren! – auch in Deutschland eingeführten Heftroman („Sherlock Holmes – Aus den Akten des Weltdetektivs“, „Nick Carter“, „Percy Stuart“) ist die Entwicklung zum Trivialen endgültig abgeschlossen, das Genre „anglisiert“, als Schund abgestempelt. Auch die in den Zwanzigern dem Krimi zuteilwerdende Anerkennung von Seiten der Hochliteratur (Brecht, Bloch u.a.) vermag daran nichts zu ändern. Minderwertig bleibt minderwertig.

Für die Erfolglosigkeit der frühen Jahre entscheidend ist jedoch vor allem, dass der deutsche Kriminalroman zwischen 1850 und ca. 1890 irgendwo zwischen dem Trivialen und dem „Literarischen“ eingeklemmt bleibt – und so von beiden Seiten (Lesern, Literaturwissenschaftlern) nicht vereinnahmt wurde. Für die einen zu anspruchsvoll, für die anderen zu gewöhnlich. Nur vereinzelt schaffen es solche Krimis in den Kanon der Hochliteratur, bekanntestes Beispiel: Theodor Fontanes „Unterm Birnbaum“, in der „Gartenlaube“ erstveröffentlicht.

Die Folge: Forschungsnotstand. Die Aufgabe: forschen. Denn das ist die traurige Wahrheit: Alles was wir heute über die Tradition der deutschen Kriminalliteratur sagen können, ruht auf lückenhaften Fundamenten. Noch. Nur eines ist sicher: Der deutschsprachige Krimi begann nicht mit Friedrich Glauser.

(eine Ausarbeitung dieser Schulstunde findet man in „Crime School – das Buch“. Hier schon mal vorbestellen)

Und in der nächsten Stunde: Sagen Sie mal, mein Bester – Genre. Muss es das überhaupt geben? Wollen Sie wirklich Edgar Wallace und Theodor Fontane, Jerry Cotton und Philip Marlowe in einem Atemzug nennen? – Aber ja doch, meine Liebe! DAS ist doch gerade das Spannende!

28 Gedanken zu „Crime School – das Partywissen -1-“

  1. Die „Erfindung einer Hypothese“, wie es der gute Pierce mal genannt hat (ich müsste jetzt noch mal genau nachschauen, aber ich denke, er wars). Klar, darauf läuft es hinaus.

    bye
    dpr

  2. Das werden wir dann ja bei der großen Abschlussprüfung sehen, Schüler Schorsch. Ich geb aber schon mal ein Fleißkärtchen.

    bye
    dpr

  3. Warum, lieber dpr, lässt Du bei Edgar Poe den Zusatz „Allan“, der ja auf seinen gehassten Pflegevater zurück geht, den Poe aber selbst weiter beibehielt?

    fragt sich
    Ludger

  4. Poe,lieber Ludger, hat selbst diesen Namen nie gemocht und man streitet sich in Fachkreisen durchaus darüber, ob er seinen Nachruhm als E.Allan Poe genießen wollte. Wie dem auch sei: Es ist so eine Marotte von mir, einfach Edgar Poe zu schreiben. Hatten andere auch (ich nenne jetzt keine Namen…)

    bye
    dpr

  5. Lieber dpr,

    da bedanke mich auch artig wie gerne für diese Übersicht!

    Vielleicht könntest Du einen Punkt für den Schüler aus der letzten Reihe präzisieren? Wenn auf Müllners „Der Kaliber“ die ganzen Krimi-Kriterien zutreffen, warum bezeichnest Du ihn „nur“ als „ersten deutschen Krimi“? Was spricht dagegen, die These aufzustellen, dass Poe mit seinem Dupin nicht der erste war?

    Gruß,

    Lars

  6. Herr Lehrer [Selbigem ins Wort fallend], ich will auch´n Fleißpunkt:

    “Genre” is a descriptor of the
    classification of information based on formal, and social aspects of that information as it is archived or transferred. As is usually the case with comprehensive definitions, this one
    makes little sense without more explanation. Briefly, we are trying to say that to identify the genre of a block of information, we must examine its form (structure and physical nature), plus how and why it is being delivered and how and why it is being accessed.

    Oder um es einfacher zu formulieren:

    ‚genres only exist in so far as a social group declares and enforces the rules that constitute them‘ (Hodge & Kress 1988, 7)

    Genres entstehen also durch gemeinschaftliche Übereinkunft. Müllers Bücher werden international nicht als Baustein des Genres wahrgenommen, also nicht als Krimis „accessed“. Für die regionale deutsche Geschichte mag Müller dagegen schon relevant sein.

    Oder ?

    fragt bernd

  7. Diese Frage habe ich befürchtet, lieber Lars. Ich bezeichne „Kaliber“ deshalb als ersten DEUTSCHEN Krimi, weil er den allmählichen Übergang von der Verbrechens- zur Kriminalliteratur VORWEGNIMMT. Zum Erfolgsmodell Poe / Doyle fehlt aber noch einiges, insbesondere die allwissende Ermittlerinstanz. Wenn ich ihn dennoch als „ersten deutschenKrimi“ bezeichne, ist dies gewissermaßen ein Kompromiss. Poes Verdienste will ich nicht schmälern, Müllners Vorreiterrolle aber würdigen. Wir sollten uns immer vor Augen halten, dass „der Krimi“ nicht erfunden wurde, sondern sich entwickelt hat, und zwar nicht unabhängig von seiner Zeit. Dass „Der Kaliber“ keine erkennbaren Folgen hatte, mag mit darin liegen, dass das Genre erst in einer durch die Industrialisierung verunsicherten Gesellschaft möglich wurde – die es SO 1828 bei uns noch nicht gab (auch die Reformen in Justiz und Strafrecht spielen dabei eine Rolle, keine Frage). Es gibt übrigens eine englische Ausgabe von „Der Kaliber“ (zusammen mit anderen deutschen /österreichen Novellen) von Mary Tannert: „Early German and Austrian Detective Fiction: An Anthology“ (1999). DIe Herausgeberin über ihr Buch: „Quick Test: What was the first „modern“ detective story? (…)
    Usual answer: Edgar Allan Poe’s The Murders in the Rue Morgue
    Correct answer: Adolph Müllner’s The Caliber

    So weit möchte ich nicht gehen. Müllners Text ist ohne Zweifel ein „Krimi“, aber ihm fehlt „das Triviale“, genauer: der entscheidende Ansatz zum Trivialen, wie ihn Poe entwickelt und Doyle perfektioniert.
    Aber du siehst schon: Das ist ein ganz spannendes Thema, wert, sich Gedanken drüber zu machen. In der Buchform werde ich das elaborieren, vor allem durch Querverweise auf andere Artikel dort, z.B. über den Genrebegriff.

    bye
    dpr

  8. Hallo Bernd,

    stimmt. Aber der Genrebegriff hat sich natürlich verselbständigt, die Übereinkunft (was ja immer eine aktive Entscheidung voraussetzt!) ist dem Abgleichen äußerer Merkmale gewichen. Müllner wurde als „genrebildend“ jedenfalls nicht wahrgenommen, Poe schon (dass ihn Baudelaire ins Französische übersetzt hat, Gaboriau ins „Triviale“ weitergeschrieben, spielt hier rezeptionsgeschichtlich keine geringe Rolle). Also Fleißkärtchen, Bernd! Und am Freitag Extranachtisch in der Kantine!

    bye
    dpr

  9. „Genres entstehen also durch gemeinschaftliche Übereinkunft“: aber doch nicht enumerativ-abschließend und ohne Wandel, oder? Außerdem ist just der Müllner-Text von der US-amerikanischen Forschung wahrgenommen worden (die Sammlung müßte hier bei wtd irgendwo genannt werden, außerdem: Burns, Barbara, `Adolf Müllner’s Der Kaliber: The First German Detective Story?‘ German Life and Letters, 58:1 (2005), pp. 1–12.
    ). Schließlich ist es gar nicht so selten, daß in der angelsächsischen Forschung einer der Ursrpünge des Genres in der dt. Romantik lokalisiert wird (deren avider Rezipient Poe bekanntlich war).

    Beste Grüße!

  10. Nicht ohne Wandel, lieber JL, deshalb auch mein Hinweis auf Verselbständigung und Kriterienverlagerung. Aber der Hinweis auf die deutsche Romantik ist natürlich prächtig. Wenn ich es jetzt einmal wage, die Romantik als „Genre“ wahrzunehmen, dann sehen wir diese Übereinkunft hinsichtlich der Qualität und ihres allmählichen Wandels. Romantik als zur Klassik (vorher) und zum Realismus (nachher) antipodisch, Romantik als Vorreiterin der Psychoanalyse resp. eines UMFASSENDEN Realismus, Romantik als politisch indifferent, Romantik als politischer Reflex. Heute: Romantik als Synonym für Parkbank plus Vollmond drüber resp. Krimi als Anhäufung von Kinderleichen, Blutlachen und depressiven Ermittlern. Alles „irgendwie Genre“, abhängig von Zeit und Rezipienten.

    bye
    dpr

  11. „Genres entstehen also durch gemeinschaftliche Übereinkunft“: aber doch nicht enumerativ-abschließend und ohne Wandel, oder?

    Gott bewahre, everything must chance“. Ich hatte aus meinem Text einen Absatz wieder rausgelöscht, in dem ich darauf eingegangen war.

    Aber dass bedeutet nicht, dass man einfach heutige Maßstäbe auf frühere Bücher, für die diese Übereinkünfte nicht galten, anwenden kann und diese Bücher im Handstreich für das Krimigenre „vereinnahmen“ kann.

    Beste Grüße

    bernd

  12. @Übereinkünfte können auch rückwirkend gelten, lieber Bernd, zumal dann, wenn es sich um Entwicklungen handelt. Dass man weder zu Zeiten Müllners noch Poes vom Krimigenre redete, ist klar. Ich schlage ja auch beide nicht dem Genre zu, sondern lote ihre Verdienste um seine Entwicklung aus. Ist schwer genug…
    @Anobella: Wieso verlegerisches Risiko! Wenn wir von der Crime School so viel wie vom Talmud verkaufen, wird sich der Alligator einen Privattümpel in Florida leisten und viele, viele Alligatorenweibchen um sich versammeln. Und ich eröffne die erste private Krimischule der Welt. Auf den Malediven.

    bye
    dpr

  13. Danke, dpr, für die Erläuterung. Übrigens solltest Du zwischen Poe und Doyle nicht den Kollegen von Down under, Fergus Hume vergessen. Der ist sicherlich ausreichend trivial und konnte für sein „Hansom Cab“ durchaus eine enorme Auflage erreichen. Und war einen Tick früher dran als Holmes. Gaboriau lassen wir mal lieber außen vor, betrachten wir derzeit ja nur deutschsprachig vs. anglophon 😉

  14. Lieber dpr,

    erst einmal können Übereinkünfte (also Verträge) nicht für Dritte (also auch Vergangene) getroffen werden.

    Genreregeln helfen, soweit ich es verstanden habe, sowohl dem Erschaffenden, als Ordnungsrahmen der „Zeichen“setzung, als auch dem Rezipienten, als Ordnungsrahmen der Deutung. Ein Autor erstellt ein Genrewerk im Bewusstsein der Regeln des Genres und begeht meinetwegen auch so „Regelüberschreitungen“. Ein Werk das vom Autor ohne Kenntnis der Regeln (also nicht innerhalb von ihnen) verfasst wurde, kann, nur weil es zufälligerweise den Charakteristika eines Genre entspricht, diesem nicht so einfach zugeordnet werden.

    Jetzt befinden wir uns gewissermaßen in der Lage des Münchhausens, als er im Sumpf war. Eine Möglichkeit einen „Anfang“ eines Genres zu finden liegt wohl, da treffen wir uns, in der Ideengeschichte.

    Auch neigen manche Genretheoretiker dazu, dieses über Referenzwerke zu charakterisieren (die Definition scheint zur Zeit out zu sein), wie viele Leser würden wohl Poe (und wenn sie ihn kennten, vielleicht auch Müllner) als ein Referenzautor wählen ?

    Sehr interessant fand ich übrigen Deinen Bezug aufs Triviale. Du rekurriert ja immer wieder darauf, dass das Triviale Bildungsmerkmal des Kriminalromans sei, hast es aber nicht erläutert gehabt. Mittlerweile hast Du Dich von beiden Seiten (Erschaffenden und Rezipient) dem Begriff genähert, denn in einem früheren Kommentar hattest Du von dem Leser im Blaumann geschrieben, der seine Groschenhefte las und nun Dich auf den Inhalt der Geschichten bezogen.

    [Ich spielte übrigens primär auf Dostojewski an, den JL als Krimiautor bezeichnet. Etwas das ich erst glauben würde, wenn man nachwiese, dass Edgar Allan Poe D. beeinflusst hat, oder wenn es allgemein anerkannter wissenschaftlicher Standard wäre. Warum dann nicht auch „Wuthering Heights“, dürfe sehr in der Linie mancher neuerer Krimis liegen.]

    Beste Grüße

    bernd

  15. Das zugleich Schöne wie Erschreckende an einer Krimi-Genre-Diskussion ist, dass man sie endlos führen kann. Ich glaube nicht – nein, ich WEISS, dass weder Müllner noch Poe ein „Genre“ generieren wollten. Der Begriff des Genres Krimi ist im Nachhinein entstanden und, wie alles in diesem Bereich, Hilfskonstruktion. Was ich hier anhand der deutschen Krimitradition beschrieben habe, wäre ein im Darwinschen Sinne „Nichterfolgsmodell“, dem das englische (oder, lieber Lars, englischSPRACHIGE) gegenübersteht. Der entscheidende Unterschied ist jene legendäre Trivialität, die zur Vereinheitlichung führte (das alte Whodunit-Modell mit genialischem Aufklärer) und sehr wohl, ich sagte es bereits, die „Stimmung der Epoche“ auf ihrer Seite hatte. Man könnte mit Fug und Recht behaupten, dass die deutsche Krimitradition zwischen 1850 und ca. 1900 daran scheiterte, zu „anspruchsvoll“ gewesen zu sein, um als Genre durchzugehen.
    Ein Problem, das wir auch heute haben, man erinnere sich an die Diskussion um „literarische Krimis“, die immer auch eine Diskussion um Genrezugehörigkeit oder Nicht-Genrezugehörigkeit ist. Ich möchte den Genre-Begriff aber nicht als Eingrenzung, sondern vielmehr als Ent-grenzung betrachten. Die alte Weisheit, man könne Äpfel nicht mit Birnen vergleichen, ist nämlich falsch, sobald man beide im „Genre Obst“ platziert. Genauso im Krimigenre: Hier kann ich nämlich Jerry Cotton-Hefte mit Dürrenmatt-Romanen vergleichen – etwas, das man zulange nicht getan hat oder wenn doch, dann immer zu Ungunsten der Cotton-Hefte. Das kann, hoffe ich, erhellend sein.

    bye
    dpr
    *der weiterhin auf Vorbestellungen wartet

  16. „[Ich spielte übrigens primär auf Dostojewski an, den JL als Krimiautor bezeichnet.“ Wo? — lieber Bernd, bezeichne ich Do. als Krimiautor? Zugegeben, ich habe nicht jeden meiner Texte im Kopf, aber das würde mich doch wundern. (Was mich gelegentlich interessiert, ist die Geschichte der Genre-Definitionen und der davon abhängigen Genre-Geschichten — und da spielt Do. eine Rolle.)

    „Etwas das ich erst glauben würde, wenn man nachwiese, dass Edgar Allan Poe D. beeinflusst hat, oder wenn es allgemein anerkannter wissenschaftlicher Standard wäre“: was diesbezüglich ‚allgemeiner wissenschaftlicher Standard‘ ist, das hängt davon ab, was man unter ‚Intertextualität‘ versteht. Nun will ich mich nicht als Experte aufspielen, aber angesichts der Rezeptionsdaten für Poe in Europa in den 1850er Jahren (Baudelaire hat die ersten Übersetzungen 1845 gemacht), angesichts von Do.s Biographie, seiner Bildung und seiner Sprachkenntnisse — angesichts nur dessen, würde es mich sehr wundern, wenn Do. Poe nicht intensiv rezipiert hätte.

    „Eine Möglichkeit einen „Anfang“ eines Genres zu finden liegt wohl, da treffen wir uns, in der Ideengeschichte“: da, ehrlich gesagt, trennen sich unsere Wege: selbstverständlich gehen Genre-Vorstellungen in die Produktion von Texten ein, aber Genre ist nie eine ‚Eigenschaft‘ von Texten, sondern — für mich — immer eine Zuschreibung. Aber das wäre für den Augenblick, mit dem bekannten Krimi-Autor zu sprechen, ein „zu weites Feld“.

    Beste Grüße!

  17. dpr, ich glaube es ist besser, wenn wir die „Erfindung“ des Genres dem Edgar überlassen. Man stelle sich vor: Deine These (bzw. Mrs. Tannerts) setzte sich durch und schwuppdiwupp – die Deutschen wären es mal wieder gewesen. Und dann schaut man sich an, dass die deutschen Krimiautoren (i.e. das Syndikat) das gar nicht wahrhaben wollten und am Glauser hingen. Und lieber in einer internationalen Nische blieben. Hm.

    Oder andersherum: Es setzt plötzlich ein Run auf zeitgenössische deutsche Krimis ein, Paprotta, Schenkel, Eckert und und und werden in der Times besprochen. Hm.

    Ich fände es spannend, diese Idee mal weiterzuspinnen, obwohl es sehr wahrscheinlich Zeitvergeudung wäre.

    Aber der klassische Whodunit ist auch ein intellektuelles Spiel, so why not.

  18. ??? „aber Genre ist nie eine ‚Eigenschaft‘ von Texten, sondern — für mich — immer eine Zuschreibung.“

    Natürlich eine Zuschreibung, siehe meine erste Bemerkung, aber auch eine durch Genreschaffenden und somit auch interaktiv.

    Wenn ich die Texte zur Genretheorie richtig verstanden habe, dann beeinflusst das Bewußtsein einen Genretext zu verfassen den Text, denn das Genre stellt, implizite Bedeutungen zu Verfügung, die nicht mehr explizit in den Text eigefügt werden müssen.

    Und die Do.-Bemerkung fiel in einer der Diskussionen hier, letzten Herbst. Sklavenarbeit diese zu suchen.

    Beste Grüße

    bernd

  19. Lieber Bernd,

    zur Sklavenarbeit will ich Sie nicht verdonnern, schon gar nicht an diesem Tag und zu dieser Zeit!

    Letztlich ist es auch eine Frage der Perspektive, ob man ‚Schuld und Sühne‘ zum Genre rechnen will, weil der Text bestimmte Merkmale aufweist (Sujet, Figurenkonstellation, Erzählstruktur), die man gemeinhin zum Kern des Genres rechnet. Wenn ich auf dieser Basis ‚Schuld und Sühne‘ zum Genre rechne, dann stoße ich trotzdem auf Ihren Widerstand und verstoße vielleicht sogar gegen die herrschende Meinung von gestern und heute. Aber das kann sich ändern, ohne daß sich der Text ändert.

    Darf ich, um des Argumentes willen, das Beispiel wechseln: Ich bin ziemlich sicher, daß vor, sagen wir, 10 Jahren, ‚Tannöd‘ noch nicht hätte als „großartiges Krimidebüt“ vermarktet werden können. Statt dessen hätten wir etwas von einem Text gehört, der, obwohl er eine ‚Kriminalgeschichte‘ (eine ‚authentische‘) erzähle, sich allen konventionellen Zurechnungen entziehe (was im übrigen impliziert, daß die ‚Dorfgeschichte‘ ein historisches Genre geworden ist, das für unsere Diskussionen keine Rolle mehr spielt). Statt Krimipreise zu erhalten, wäre die Autorin vielleicht zum Bachmannwettbewerb geschickt worden — und hätte sich dort bestimmt ehrenhaft geschlagen.

    An der Genrekonstitution (und am Genrewandel) sind alle beteiligt: die Hodge/Kress-Group umfaßt nicht nur Autoren, sondern auch Verleger, Buchhändler, Leser, Rezensenten, Käufer usw. usf. — alle, die sich zu den Texten so verhalten, daß die anderen dies als Stellungnahme zu Genre verstehen können. Erst in diesen Kommunikationsstrukturen entsteht Genre, erhält und wandelt sich.

    Genug der Bekenntnisse — und beste Grüße zu einem (wie es hier aussieht) regnerischen Vatertag!

  20. Lieber JL,

    90 km östlich von Ihnen definitiv regnerisch, was die Kinder aber nicht stört, die toben gerade durchs Haus und befinden sich mental in irgendwelchen fernen Galaxien.

    ‚A genre is ultimately an abstract conception rather than something that exists empirically in the world,‘ notes Jane Feuer (1992, 144).

    Wir stimmen, was die Entstehung von Genre betrifft, überein. Mein erstes englisches Zitat hatte alles dazu enthalten.

    John Hartley notes that ‚the addition of just one film to the Western genre… changes that genre as a whole – even though the Western in question may display few of the recognized conventions, styles or subject matters traditionally associated with its genre‘ (O’Sullivan et al. 1994).

    ‚genre is not… simply „given“ by the culture: rather, it is in a constant process of negotiation and change‘ (Buckingham 1993, 137).

    Die Eigenschaft des Genres dynamisch und unscharf zu sein, ändert aber nichts an der Tatsache, dass wir alle eine Vorstellung davon haben „was“ ein bestimmtes Genre ist, dieses gilt natürlich auch für Autoren.

    From the perspective of many recent commentators, genres first and foremost provide frameworks within which texts are produced and interpreted. Semiotically, a genre can be seen as a shared code between the producers and interpreters of texts included within it.

    Within genres, texts embody authorial attempts to ‚position‘ readers using particular ‚modes of address‘.

    Ich bin hier natürlich „far above my head and still beyond your reach“, aber wenn man denn die wiedergegebenen Aussagen akzeptiert, dann ist für mich ganz klar, dass diese Vorstellung von Genre den Autor beim Schreiben beeinflusst [weniger „wissenschaftlich“ käme man wohl zum gleichen Ziel !].

    Nun also zu Dostojewski: Für mich ist ganz klar, wenn es das Genre und seine wie auch immer beschaffenen Charakteristika explizit nicht gab, kann er auch nicht in dessen Kriterien gearbeitet haben. Aber es gab natürlich Vorstellungen eines andere Genres, die den Autor beeinflusst haben. Dennoch, die Möglichkeiten des menschlichen Geistes sind schließlich beschränkt, kann man möglicherweise eine Analogie herstellen zum Krimigenre, aber das kann man auch bei „Wuthering Heights“ usw. In der Biologie spricht man da von Analogien (im Gegensatz zur Homologie). So teilen Maulwurf und Maulwurfsgrille gewisse Merkmale und dennoch sind sie nicht miteinander verwandt.

    Vergangene Werke mit ihren individuellen Entstehungsmotiven in einem gegebenen Kontext mit gegenwärtigen Genrevorstellung zu beurteilen, erinnert mich an die, heutzutage nicht mehr zeitgemäße Vorgehensweise Leistungen anderer Kulturen (seien sie vergangen oder fremd) mit unseren gegenwärtig westlichen Maßstäben zu bewerten.

    Beste Grüße

    bernd

  21. Vielleicht, lieber Bernd, würde es weiterhelfen, den Begriff des Genres mit dem der Tradition zu verknüpfen. Traditionen bewahren frühere „Bräuche“, sie verändern sie, passen sie an, vergessen sie auch, falls nicht mehr „zeitgemäß“. Das kann bis zum Unkenntlichmachen gehen, siehe etwa „Halloween“ oder „Karneval“. Wenn ich das nun als Nachgeborener untersuche, zeichne ich die Entwicklung nach. Genauso beim Krimigenre. Ich schaue, wo es herkommt, wie es sich geformt hat.
    Ich erkenne dynamische Prozesse, gegenseitiges Sichbeeinflussen, das allmählich Herausbilden von Mustern. Noch einmal: Weder Poe noch Dostojewski noch irgendein anderer der „Klassiker“ hat nach Genrevorgaben gearbeitet. Das Genre entstand aus der beinahe seriellen Nutzung der Muster. Zwischen Poes Auguste Dupont und, meinetwegen, „Nick Carter“ liegt gerade mal ein halbes Jahrhundert, in dem der TYPUS des souveränen Überdetektivs herausgebildet, schablonisiert wurde. Poe ist also Ausgangspunkt einer Entwicklung, und als solchen kann ich ihn und sein Werk durchaus in Genrebildungen einbeziehen, die DANACH stattfanden. Ich muss es sogar. Das hat nichts mit kultureller Arroganz zu tun. Im übrigen: Würde ich Poe nach „gegenwärtigen Genrevorstellungen beurteilen“, ach Gott, ich müsste ihn verreißen.

    bye
    dpr

  22. Lieber dpr,

    hatte ich nicht in einer früheren Anmerkung Poe inkludiert ?

    „Eine Möglichkeit einen „Anfang“ eines Genres zu finden, liegt wohl, da treffen wir uns, in der Ideengeschichte.“

    Auch hatte ihn als Referenzautor bezeichnet.

    Viel moderner sind ja manche seiner Kurzgeschichten.

    Beste Grüße

    bernd

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