Crime School – das Partywissen -3-

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Dem komplexen Thema der Geburt des Kriminalromans wollen wir uns auf einer Zeitschleife nähern, die ihren Ausgangspunkt im Jahr 1909 hat, wo wir das Genre in seiner vollen Blüte erleben, aber immer noch – bis heute – geprägt von den Umständen seines Indieweltkommens.

1909 veröffentlicht der Norweger →Sven Elvestad (1883-1934) unter dem Pseudonym Stein Riverton seinen Kriminalroman „Der eiserne Wagen“ („Jernvognen“), der vier Jahre später erstmals in deutscher Übersetzung erscheint. Elvestad ist nicht irgendwer, er ist ein international anerkannter, vielgelesener Autor von Krimis, auch und gerade in Deutschland. So nimmt es nicht wunder, dass „Der eiserne Wagen“ 1923 und 1938 wiederaufgelegt wird, 1988 erscheint sogar eine weitere Ausgabe bei Heyne, 2003 ein dänischer Comic, der die Geschichte in Bildern nacherzählt. Ein Klassiker also.

Mit eingeschlagenem Schädel wird, in der Nähe eines Hotels in der norwegischen Provinz, der Forstmeister Blinde aufgefunden. Er hatte sich soeben mit der Schwester eines Gutsbesitzers verlobt und war dann, prächtiger Stimmung, zurück zum Hotel gewandert, über die nächtlich einsame Heide, wo er seinem Mörder begegnete. Man telegrafiert nach Oslo an den berühmten Detektiv Asbjörn Krag, der auch prompt erscheint und sich des Falles annimmt.

Das Besondere ist nun, dass die Geschichte nicht aus der Perspektive des Detektivs, sondern der eines Ich-Erzählers reportiert wird, von dem wir nur sehr wenig erfahren. Weder seinen Namen gibt Elvestad preis noch seinen Beruf (Wir lesen einmal, dass er über einer „Abhandlung“ sitzt). Von Anfang an widmet sich Krag fast ausschließlich diesem Ich-Erzähler, er macht ihn quasi zu seinem Gehilfen, einem Dr. Watson gewissermaßen, in dessen Naivität sich die Genialität des Ermittlers glänzend spiegeln kann. Immerhin hat der Ich-Erzähler als letzter den Forstmeister lebend gesehen, aus des Gutsbesitzers Haus kam der, erkennbar glücklich und mit triumphierendem Lächeln im Stutzergesicht. Dann ging er über die Heide, auch der Ich-Erzähler kehrte zum Hotel zurück und hörte dabei seltsame Geräusche, Geräusche, wie sie von einem eisernen Fahrzeug stammen mussten.

Der eiserne Wagen, hier ist er. Ein Mythos, eine Schauergeschichte, man hört ihn bisweilen, so raunen es sich die Landbewohner zu, aber keiner hat ihn je gesehen. Später wird sich herausstellen, dass der Vater des Gutsbesitzers ein Tüftler war und solch einen eisernen Wagen konstruiert hat. Aber dieser Vater ist vor vier Jahren ertrunken, seine Leiche hat man nicht gefunden.

So wie die Dinge liegen, kann nur der Gutsbesitzer der Täter sein, hatte er doch ein Motiv. Der Verlobte seiner Schwester gefiel ihm nämlich ganz und gar nicht, außerdem lügt er offensichtlich, hat Geheimnisse. Krag jedoch scheint dies merkwürdigerweise nicht zu interessieren. Er arbeitet weiter – aber was arbeitet er? Man wird nicht recht schlau aus ihm. Nur dem Ich-Erzähler sitzt er ständig im Genick, ein vorzeitlicher Inspector Columbo.

Der Leser ahnt selbstverständlich, warum dem so ist. Denn „Der eiserne Wagen“ wurde auch deshalb klassisch, weil hier wohl zum erstenmal in einem Kriminalroman der Ich-Erzähler als Täter entlarvt wird (also vergessen wir Agatha Christie mit ihrem „The murder of Roger Ackroyd“). Pure Eifersucht hat ihn getrieben, das Ganze eine Affekthandlung.

Mit der schaurigen Geschichte des eisernen Wagens hat die Tat nichts zu tun. Aber es gibt ihn. Der Vater des Gutsbesitzers ist auch nicht ertrunken, sondern hat sich aus Versicherungsbetrugsgründen ins Ausland abgesetzt, ist dann wieder zurückgekommen auf den Hof – deshalb die Nervosität seines Sohnes – und von jener mysteriösen Maschine auf der Heide, just an der Stelle, an der auch der Forstmann sein Leben lassen musste, getötet worden. Ein Unfall. Die Maschine – ein fortschrittliches Fluggerät, von einem deutschen Erfinder hier abseits aller Aufmerksamkeit getestet – kam aus der Spur und stürzte ins Meer, Ende „eiserner Wagen“, Ende Erfinder, der gleich mit im Meer versank.

All das ermittelt Asbjörn Krag, aber, noch einmal, wie? Den Ich-Erzähler hatte er von Anfang an in Verdacht, nein, er WUSSTE ganz einfach: Der wars. Ein Übermensch also, ein Nachfolger des Sherlock Holmes, und natürlich wird er später, als der Täter zu überführen ist, einiges aus dem Nähkästchen plaudern.

Versuchen wir nun, die Bauelemente der Geschichte zu ordnen. Es beginnt mit dem Mord und damit, dass er von Elvestad mit einem Mysterium, dem eisernen Wagen, in Verbindung gebracht wird, etwas Übernatürlichem also. Der Detektiv weiß von Beginn an, wie die Dinge liegen und entlarvt den Mörder, indem er ihn psychisch destabilisiert und dabei auch vor Albernheiten nicht zurückschreckt. So schminkt und verkleidet sich Krag zum Beispiel als der Tote und erscheint als „Geist“ vor dem Fenster des Ich-Erzählers, was diesen nachvollziehbar seiner Fassung beraubt.

Der Ich-Erzähler ist die eigentlich interessante Figur des Romans. Wir erfahren ja nicht nur die Handlung aus seiner Perspektive, wir sitzen darüberhinaus direkt in seinem Kopf und teilen seine Gedanken. Hier nun geschieht Merkwürdiges. Offensichtlich ist dieser Ich-Erzähler an der Auflösung des Falles äußerst interessiert, nichts deutet zunächst auf ihn als Mörder hin. Die Tat hat er verdrängt, erst die Aktionen des Detektivs lassen sie ihm nach und nach wieder bewusst werden. Je mehr aber nun die psychische Desolatheit offenbar wird, desto nüchterner handelt der Ich-Erzähler. Er plant, Krag aus dem Weg zu räumen und entwickelt einen raffinierten Plan, den der Detektiv natürlich vorausgesehen, ja, provoziert hat und vereitelt.

„Der eiserne Wagen“ ist also, genretechnisch betrachtet, eine Mischung aus Detektivroman in der Doyle’schen Tradition und Psychokrimi. Krag ist durchaus ein moderner Detektiv, er verfügt über ein Netzwerk von Informanten, die ihn mit allem Nötigen versorgen. Dennoch ist seine Vorgehensweise nicht ausschließlich logisch, was er auch selbst weiß:

„Wir dürfen uns nicht nur an die Indizien halten,“ sagte er, „schließlich müssen wir die Sache auch von der menschlichen Seite betrachten.“

Dass Induktion und Deduktion die Wirklichkeit nicht eindeutig zu verifizieren im Stande sind, zeigt sich auch am zweiten Erzählstrang des Romans, dem mit dem eisernen Wagen. Was wie ein aus dem Dunkel des Mythos, der Gruselwelt waberndes Geheimnis anhebt, wird dank rationaler Denkarbeit als nüchterne Tatsache freigelegt, ja, mehr noch: Der eiserne Wagen, Sinnbild des Übernatürlichen, wird zum Sinnbild des technischen Fortschritts. Er erschlägt das Irrationale buchstäblich in Gestalt des Gutsherrenvaters, des Erbauers der „dunklen Version“ eiserner Wagen. Und dennoch: So ganz eindeutig empirisch ist der Fall nicht. Ein Fischer nämlich behauptet steif und fest, schon vor Jahren den eisernen Wagen über die Heide rollen gehört zu haben – und das konnte nun beim besten Willen nicht die neuzeitliche Flugmaschine des deutschen Erfinders gewesen sein.

Es sind also drei widerstreitende, sich aber auch durchdringende Elemente, die Elvestads Roman konstituieren: die logische Vernunft, der es am Ende gelingt, die geheimen Mechanismen der Psyche zu beherrschen – der technische Fortschritt, der dabei hilft – und die Psyche selbst, ohne die logische Vernunft und Fortschritt nicht funktionieren können. Denn im Grunde seines Wesens ist der Detektiv als der Fädenzieher ein von seiner eben nicht beherrschbaren Psyche gesteuerter Mensch – er AHNT, er WEISS einfach, er suggeriert und mutmaßt, ohne doch wirklich auf dem Boden des Faktischen zu stehen. Dieses Faktische wächst also aus einem Sumpf des Mehrdeutigen – der Psyche eben, es ist so willkürlich wie die Psyche letztlich nicht in ihren letzten Details zu erklären. Die Wirklichkeit, wie sie uns am Ende des Romans als eine eindeutige präsentiert wird, ist nichts weiter als eine Inszenierung, eine rationale und beruhigende Version der eigentlichen Wirklichkeit, die nur als ineinandergeschlungenes Gebilde aus vielen Wirklichkeiten vorstellbar ist. Das Ziel des Kriminalromans ist jedoch Eindeutigkeit, Eindeutigkeit wiederum das bedeutendste Charakteristikum von – Trivialität.

Die beiden Erzählstränge sind dabei nur verschiedene Darstellungen des grundlegenden Phänomens. Es existiert etwas sehr Vages – hier ein Verbrechen, dort ein nicht zu erklärendes gespenstisches Szenario -, das mit Hilfe des Verstandes „klargemacht“ werden muss. Am Ende beherrscht der logische Verstand die Psyche respektive erklärt sich das Unerklärliche als Teil des technischen Fortschritts. Doch letztlich sind beide Lösungen Pyrrhussiege. Krag selbst bedient sich psychologischer Taschenspielertricks, die sich jeglicher Erklärung verweigern. Und hinter dem Eindeutigen des technischen Fortschritts lauert nach wie vor die Möglichkeit, dass jener mysteriöse „eiserne Wagen“ (der nichts anderes als die Psyche verkörpert) in seiner ganzen Ungezähmtheit weiterhin existiert und agiert.

Dass Elvestad Eindeutigkeit herstellt, ist also nicht das Markante seines Romans, sondern Endziel des trivialisierten Krimis. Dass er zeigt, wie Eindeutigkeit inszeniert wird, wie sich helle Ratio und dunkle Psyche zugleich bedingen und bekämpfen, von wie auch immer gearteter Dichotomie (gut / böse, rational / irrational) „in Wirklichkeit“ also nicht die Rede sein kann – das zeichnet den „Eisernen Wagen“ aus. Und verweist sogleich auf die Geburt des Genres, die exakt in diesem zeit- und geistesgeschichtlichen Koordinatensystem stattfindet.

Dazu dann mehr in der nächsten Lektion.

13 Gedanken zu „Crime School – das Partywissen -3-“

  1. Eulen nach Athen: Sie kennen gewiß Freuds „Tatbestandsdiagnostik und Psychoanalyse. Vortrag gehalten in Prof. Löfflers Seminar an der Universität Wien im Juni 1906“, erstmals 1906 in „Archiv für Kriminalanthropologie und Kriminalistik“, dann in GW VII (1955).

    Beste Grüße!

  2. Das hab ich erkannt, das Schmidt-Zitat. „lähmt, schwächt, hindert?“

    Wir machen uns doch gar nicht lustig, mein Lieber. Wir sind lustig. Das ist ein Unterschied wie zwischen Dürrenmatt und Holtei.

  3. lustig? Keineswegs! Aber Ihre Geburtsmetapher ist (wenig überraschend) ausbaufähig: die Eltern gehören unterschiedlichen Generationen an, anders gesagt: der Krimi als Produkt einer Altersmésalliance (das merk‘ ich mir und werde Sie entsprechend zitieren).

    Beste Grüße!

  4. Altersmésalliance? Ich sagte doch: Ihr werd`t euch noch wundern! Das mit den unterschiedlichen Generationen ist (natürlich) korrekt. Beginnen wir irgendwo Mitte 18. Jh. Mit dem „eisernen Wagen“ wollte ich bloß mal auf den Umstand einstimmen, dass sich mitnichten „heute alles geändert“ hat. AUch 1909 nicht. Die Gewichtungen sind andere, aber dieses „Geburtsmilieu“ ist noch immer das von annodazumal.
    Und – bitte zitieren Sie mich nie so, dass der fälschliche Eindruck entstehen könnte, ich wäre ein Freudianer. Da halte ich es denn doch mit dem Kollegen Nobokov – und würde, ohne zu zögern, jedem an Psychologie Interessierten die Gesammelten Werke des Russen ans Herz legen – statt der Freudschen.

    bye
    dpr

  5. VERZWEIFLUNG! Man braucht doch kein Freudianer zu sein, um aus Freud, je nach historischer Perspektive, einen Geburtshelfer oder einen Einbalsamierer zu machen. (Schaun’se mal bei Benjamin rein: „Flaneur“ im „Paris des Second Empire bei Baudelaire“, Bd. I.2, S. 537 ff.) (Is ja nich so, daß alle Fundamente immer neu gebaut werden müßten, eh‘ man die Dächer abdecken kann: „Dachdecker stürzen ab und gehn entzwei“, 1911: gehört zu Ihrem Thema).

  6. Ja, ja, Dachdecker, Expressionismus, lieber JL, aber wozu brauch ich Freud, wenn ich auch Krimis lesen kann? Der ist natürlich auch Kind seiner Zeit und somit stets mitzudenken. Aber die Gefahr, auch nur IN DIE NÄHE der Psychoanalyse gerückt zu werden, macht mich panisch…

    bye
    dpr

  7. ein letzte Zitat und dann geb‘ ich auf: „‚Die Brüder Karamasoff‘ sind der großartigste Roman, der je geschrieben wurde, die Episode des Großinquisitors eine der Höchstleistungen der Weltliteratur, kaum zu überschätzen.“

  8. Lieber Joachim,

    es sind ja solche Zitate, die dazu führen, dass ich möglicherweise zukünftig behaupte, dass Sie sagen, dass Dostojewski der größte aller Krimischriftsteller sei 🙂 Ich vermute aus dem Kontext, dass das Zitat von SF stammt ?

    Beste Grüße

    bernd

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