Crime School – das Partywissen -4-

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Die folgenden Überlegungen zum „Geburtsszenario“ des Krimis stammt aus der Einleitung des Textes „Schlechter Krimi Wirklichkeit“, der Ende Juni 2007 als erste Nummer der Zeitschrift „makro scoop“ erscheinen wird. Zum Bezugsprocedere sei auf die Nachbemerkung verwiesen.

Wie der Krimi aus der Wirklichkeit kommt…

Theorien über die historischen Geburtshelfer des Krimis gibt es reichlich. Sie stützen sich vorzugsweise auf handfeste Daten und Fakten, die Reformierung des Prozess- und Strafrechts, die Gründung von Scotland Yard, die zunehmende Alphabetisierung der „Massen“, das damit verbundene Aufkommen weitstreuender Unterhaltungs-, Informations- und Erbauungsmedien. Auf einem etwas abstrakteren Niveau: die Industrialisierung und, wenigstens teil- und zeitweise, Liberalisierung der Gesellschaft, deren Wandel von der bäuerlichen zur industriellen Kultur, die technische Revolution mit ihren ökonomischen Folgen. Oder noch ein wenig abstrakter: Rationalismus und Positivismus als neue Basis einer Weltanschauung, die von der generellen Beherrschbarkeit der Dinge ausgeht und sich im Kriminalroman ein Vehikel geschaffen hat, das genau diese Souveränität im Umgang mit den unbotmäßigen Störenfrieden der kontrollierten Wirklichkeit in effigie vorexerziert.

Der Paradigmenwechsel von der „Verbrechensliteratur“, der es um philosophisch-moralische Aufklärung zu tun war, nicht aber darum, ein Verbrechen aufzuklären, zur mehr oder weniger reinen Denksportveranstaltung Krimi mit buntem Spannungsbeiprogramm, dieser Paradigmenwechsel lässt sich aus den genannten Begebenheiten heraus durchaus schlüssig herleiten. Er ist jedoch unvollständig.

Denn die Wirklichkeit des 19. Jahrhunderts als der Geburtsepoche des Krimis war nicht nur die der rationalen Durchdringung der Welt, um sie vollständig zu verstehen und unter Kontrolle zu bringen. Parallel dazu existierte eine Gegenkraft, und wie beide sich sowohl bedingten als auch bekämpften, charakterisiert die Wirklichkeit und ihre Kriminalliteratur.

Begeben wir uns zurück ins Jahr 1844. Edgar Poes Blaupausen für den Rätselkrimi sind noch frisch, sein Protagonist kittet die durch Verbrechen rissig gewordene Ordnung des Lebens qua überragender Verstandeskraft, wir, die Zeitreisenden, stehen irgendwo auf einem englischen Hügel und schauen in die weite Landschaft, am Horizont vielleicht Küstenlinie und ein blauer Strich Meer. Alles ist klar, alles lässt sich erkennen und benennen, selbst die Eisenbahnschienen, die vom Horizont her laufend das Bild durchschneiden, nur dass es regnet (England!) trübt die Sicht ein wenig.

Dann geschieht es: ein Zug kommt. Seine Lokomotive speit Dampf, der Zug ist für die Verhältnisse von 1844 schnell, er fährt durchs Bild, er fährt an uns vorbei, wir beobachten ihn, wir mustern ihn, wir erkennen die Details, dann ist er durch das Bild gefahren, die Landschaft liegt genauso da wie zuvor.

Wir haben, während Bewegung ins Stillleben gekommen war, eine Kamera gezückt und fotografiert, wie der Zug sich unserem Standort näherte, als er etwa zwischen Horizont und Hügel angelangt war, haben wir auf den Auslöser gedrückt und die Szene verewigt. Jetzt entwickeln wir das Bild. Es ist NICHT dieses Bild:

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William Turners „Regen, Dampf und Geschwindigkeit“, zeigt, was der fotografische Blick auf ein Jahrhundert verbirgt: das Verwischen der Konturen, Dynamik als die Säure auf den Leinwänden des Festgefügten, die Existenz einer unbekannten, zur Destabilisierung neigenden Kraft inmitten der bekannten.

Unsere erste Assoziation zur Kriminalliteratur erfolgt spontan: Die geordnete Welt und ihre durch das Verbrechen hervorgerufene Konfusion sind hier in einem Bild zusammengefasst, zwei Wirklichkeiten begegnen sich, sie stehen zueinander in Konkurrenz, sie erzeugen Rätsel, da wir die Details letztlich nur spekulativ benennen können, sie in Theorien einbinden, die sich als richtig ode falsch erweisen mögen. Auf jeden Fall schreit Turners Bild nach der Hand des Ermittlers, der die Dinge geraderückt, den Abgrund des Wirklichen verschließt.

Turners Bild ist also nicht nur ein Vorgriff auf die Moderne in der Kunst, nicht nur Illustrierung einer im Wandel begriffenen Zeit, sondern auch Verweis auf den Zusammenhang von Kriminalliteratur und den historischen Bedingungen, unter denen sie entstand. Der Krimi als Spiegel einer Verwirrung, einer Irritation, als Regulator einer aus den Fugen geratenen „beschreibbaren“ Wirklichkeit.

Betrachten wir uns das Bild etwas genauer und fragen, was wir sähen, dächten wir uns Regen, Dampf und Geschwindigkeit als die offensichtlichen Konstituenten der „Entgegenständlichung“ weg. Eine Kulturlandschaft. Links eine Brücke, davor, auf einem Fluss wohl, ein Boot, im Hintergrund möglicherweise akkurat bestellte Felder. Alles ist geordnet und das Ergebnis von Kulturleistungen, Monumente einer Zivilisation, die als Summe dieser Leistungen definiert werden kann.

Was sie in Frage stellt, sind Elemente aus dem Unbeherrschbaren. Beginnen wir mit dem Regen. Er steht für die Natur, das über die Welt Hereinbrechende, Unbezähmbare. Ein Bild, das die Landschaft zeigt, wie sie unter einem kräftigen Regen ächzt, muss zwangsläufig zeigen, wie die Umrisse de Kultur unter dem Einfluss der natürlichen Elemente buchstäblich verschwimmen.

Der Dampf. Er ist, wie der Regen, ein natürliches Phänomen, hier jedoch menschengemacht, mithin ein Resultat der Verbindung von Kultur und Natur.

Die Geschwindigkeit. Ebenfalls ein natürliches Phänomen, aber im Kontext des Bildes ein von Menschen beherrschtes, über das Maß dessen hinaus vorangetrieben, was die Natur zustande zu bringen vermag. Es verweist auf das Zukünftige, das Primat des technischen Fortschritts, der die Natur benutzt.

Zusammengefasst: Turners Bild ist ein Ab-Bild der Zeit, in der es entstand. Jahrhundertelang hatte sich die Gesellschaft über den Begriff der Kultur definiert, hinter ihm agierte als die große Regulatorin Religion. Natur war ein Hort des Dunklen, des Wilden, des Abgründigen, das änderte sich erst gegen Ende des 18. Jahrhunderts, als die Erforschung, Bezähmung der „Landschaft“ (der physischen wie der psychischen) in den Mittelpunkt des Interesses rückte (man denke etwa an die Gartenbaukunst oder, generell, die Romantik, die physische Landschaft mit psychischer verband und zu erkunden trachtete).

Technischer Fortschritt und mit ihr „exakte Wissenschaft“ versprachen einerseits die Werkzeuge, jene dunkle Kraft zu ergründen, machten sie im gleichen Moment jedoch erst in ihrem vollen Umfang sichtbar und entlarvten das Potential der Bedrohung, das ihnen innewohnte, als Teil auch der scheinbar gezähmten Wirklichkeit .
Der Kriminalroman entstand also in einem von diesen drei Einflüssen und Wirkkräften geprägten Ambiente. Verbrechen waren die Platzhalter der Psyche, die aus exakter Wissenschaft und positivistischer Grundhaltung gewonnenen Methoden der Aufklärung waren in der Lage, Verbrechen aufzuklären (= die Psyche zu beherrschen), zurück blieb indes die Ahnung, einen Pyrrhussieg errungen zu haben.

Kriminalliteratur wuchs aus dem Streben nach dem Erreichen von Eindeutigkeit, der „fotorealistischen“ Abbildung, der Zurückdrängung aller Faktoren also, die Turners Bild von der Wirklichkeit so bedrohlich, weil ambivalent hatten werden lassen. Eindeutigkeit ist aber das Hauptcharakteristikum des Trivialen. Und das Triviale wirkt beruhigend, was es zu einem idealen Mittel macht, Wirklichkeit und ihre Akteure zu manipulieren.

Bereits die Gothic Novel als Vorläuferin des Kriminalromans hatte sich dieses großen Eindeutig- = Beherrschbarmachers Trivialität bedient. Was Horace Walpole mit „The Castle of Otranto“ 1764 begründete und Matthew Lewis’ „The Monk“ zum Höhepunkt führte, war ein Versuch, „Seelenlandschaft“ u.a. mit den Mitteln der Verbrechensautopsie zu beschreiben. Verbrechen waren neben dem Übersinnlichen, Gespenstischen und Wahnsinnigen ein Tor zur Psyche. Zerfall allerorten, ein Monster, das seine Ketten gesprengt hat, pure, bösartige Natur, die es zu beherrschen galt. Im Hintergrund jedoch geheime Mechanismen, die die Psyche steuern, das rational nicht zu Erklärende als Folge von Gesetzmäßigkeiten.

Der Mensch, dessen Psyche quasi außer Kontrolle geraten ist, wird zum Objekt einer größeren, für ihn nicht zu durchschauenden Inszenierung. In Deutschland, wo die Gothic Novel als „Schauerroman“ große Triumphe feiert, ist es vor allem Carl Grosses „Der Genius“ (1790-94), der die Struktur dieses Krimivorläufers als einer Irrfahrt durch die verwaschene, vieldeutige Seelenwelt erkennbar macht. Dieser „Genius“ nämlich ist der Mann im Hintergrund und nichts anderes als die personifizierte menschliche Psyche. Er bleibt im Verborgenen, lenkt den Protagonisten, das Ich, durch die Inszenierung, ohne sich und sein Vorhaben zu erkennen zu geben. Das macht ihn bedrohlich, er chargiert zwischen Beschützer und Angreifer, er ist Teil der Intrige, die er doch zum Besten des von ihrBetroffenen wenden will.

Nicht von ungefähr schuf Mary Shelley ihren „Frankenstein“ als ein weitere Personifizierung dieses Phänomens Psyche. Sie ist menschengemacht, wird von Menschen gesteuert – und gerät außer Kontrolle. Sie steht für den Triumph des Fortschritts über die Natur, ihre Beherrschung – und weist doch zugleich auf die Möglichkeit, dass genau dieser Fortschritt, je souveräner er die Natur zu beherrschen glaubt, sich verselbständigen kann und ein neues / altes Monster gebärt.

Die Gothic Novel beeinflusste (und wurde später selbst davon beeinflusst) die deutsche Romantik. Nicht von ungefähr bewunderte Poe diese literarische Strömung, die sich diesem Unbewussten, dem Psychologischen, widmete. Es waren nicht nur die mysteriösen Geschichten, die ihn faszinierten, gar das „Kriminelle“ eines Fräuleins von Scuderi, mit dem ETA Hoffmann einen Vorläufer der Criminalnovelle schuf. Poes Interesse galt den Dingen, die Turner angesichts des technischen Fortschritts gezeichnet hatte, dem Nichtsichtbaren, aber Wirkenden. Die Romantik interessierte sich plötzlich für Traditionen, für verschüttete Kräfte, die weiterhin wirkten, für Märchen etwa, von denen kaum mehr als ihr triviales Häutchen geblieben war und die doch von Urängsten berichteten.
Die großen Vorläufer der Krimis waren also die Pioniere der poetischen Psychologie, die Aura, in der sie entstanden, war eine Mixtur aus Forscherdrang und Angst, das Öffnen der Büchse der Pandora lege einen Inhalt frei, den man so besser nicht gesehen hätte.

Den Gordischen Knoten zerschlug Edgar Poe, jener Schriftsteller, der heutzutage in Kreisen des easy reading auf die Grinseköpfigkeit eines „Schauerautors“ zurechtmumifiziert worden ist. Poe aber ging es nicht um „Krimis“, es ging ihm um die perfekte Inszenierung der Wirklichkeit, die völlige Erkenntnis, die totale Beherrschung des Bewussten und Unbewussten. Stellen wir uns den Edgar Poe der Kriminalgeschichten als einen munter vor sich hin pfeifenden Schöpfer vor, der die dunklen, mit dem Gerümpel der Vergangenheit und des Verdrängten zugemüllten Gehirnkammern ausfegt. Der Verstand als Kehrbesen.

Das war nichts weniger als trivial, doch es schrie geradezu nach der Hand, die den bei Poe fürwahr existentiellen Versuch einer qua ratio zu durchdringenden Wirklichkeit, einer Inszenierung des Objektiven, in die Harmlosigkeit des Thrills, der schreienden Trivialität überführen sollte. Spätestens mit Conan Doyle hatte diese Hand ihr Werk vollbracht. Der Krimi war geboren, ein gefühlsseliges Balg. Erster Schritt in die Harmlosigkeit – und zugleich erster Schritt darüber hinaus, denn diese völlig trivialisierte, auf Monovalenz zusammengezurrte Hülle umschließt bis heute den Kern von Kriminalliteratur – und legitimiert damit jeglichen Versuch, ihn zu knacken, in seine Bestandteile zu zerlegen, die Kitschpostkarte in ein Turnersches Gemälde umzudeuten.

In „makro scoop“ finden Sie, jeweils zum Ende eines Quartals, die kleinen und die großen Dinge zur Kriminalliteratur. Die Details und die Blicke über das Große=Ganze, auf 16 bis 32 Seiten. Die Zeitschrift erscheint in zwei Versionen: als Printausgabe (drei Ausgaben für 2007 kosten 12 € inklusive Porto, Verpackung; der Gesamtbetrag wird mit Lieferung des ersten Heftes fällig) und als Digitalausgabe (PDF-Dokument, drei Ausgaben für 2007 kosten 6 €). Besteller der Printausgabe erhalten die Digitalausgabe kostenlos. Bestellungen bitte hierher schicken, bei Printausgaben Lieferanschrift nicht vergessen).

20 Gedanken zu „Crime School – das Partywissen -4-“

  1. sakrament, das habe ich doch nicht GEMEINT. ich habe gemeint, dass das du so viel stoff bringst, dass man dazu ein strapazierfähiges buch braucht!

    *liest noch mit
    **fleißkärtchen!

  2. Das hast du aber gerade noch mal die Kurve gekriegt! Bald ist die erste Klausur, dann bin ich ja mal gespannt, ob du wirklich mitgearbeitet hast!

    bye
    dpr
    *liebt Klausuren
    **an denen er nicht selbst teilnehmen muss

  3. * wartet auf Genehmigung für illustrierte Ausgabe, bevor er das Heft rüberschiebt
    ** Heft ist allerdings leer: habe alles im Kopf

  4. Wer braucht heute denn noch Hefte? Wofür gibt es BLOGS???

    Ludger
    *findet dprs Ausführungen zu Edgar klasse!
    ** meint, dass dpr ein TOLLER Lehrer ist
    *** hat bald FERIEN!

  5. ich finde auch, man sollte ihn an der saarbrücker uni unterbringen. als freien dozenten. riesenlehrauftrag. wahnsinnsforschungsgelder. die studenten können die recherchearbeit machen und zwar bitte online.

    *frägt b a r b nach ihrem heft

  6. Lieb gemeint, Anobellchen, aber zu spät. Wie soeben mit TW vereinbart, ziehen wir ab Herbst durch die Lande als „fahrendes Krimierklärvolk“. Wer will, kann uns mieten, wir erzählen dann, was Krimi ist und was nicht. Ab 400 Euro pro Person und Stunde zuzüglich Übernachtungskosten. Spottpreis.

    bye
    dpr

  7. *schiebt ihr Heft rüber. Ist aber auch nicht alles drin :-((
    Schön, das dpr alles was man schon so ahnte in Worte fasst. Dann kann man bei der nächsten Gelegenheit mal mit WISSEN protzen 😉
    **geht weiter Alibis eintüten. N°23, mit einem Artikel über den deutschen Krimi.

  8. Unerhört! Das ist Schleichwerbung, Barb! Gottseidank konnten wir verhindern, dass du direkt auf →das Inhaltsverzeichnis der neuen Ausgabe von Alibis verlinkt hast! Puh, das Schlimmste verhindert…

    bye
    dpr
    *wacht über die Reinheit seines Blogs

  9. dpr wacht über die REINHEIT SEINES Blogs – was sägt Frau Anobella denn dazu?

    Ludger
    *liest
    Sprottenpreis statt Spottpreis
    Krimischmiervolk statt Krimierklärvolk

  10. ich bin ein bisschen genervt, ludger, weil du nicht gescheit MITSCHREIBST HIER!

    *möchte multiple-choice-fragen, um durch AUSSCHLUSS zum richtigen ergebnis zu gelangen

  11. Das Problem, liebe Anobella, ist ja, dass der dpr in der KRIMITHEORIE ein wahrer Meister ist und da kann ich kleines Licht gar nichts zu sagen. Mit der KRIMIPRAXIS sieht es bei dpr hingegen ja nicht so dolle aus (ich verweise da auf den letzten, furchtbar schlechten Wickius-Text).

    Außerdem stellt der dpr ja auch keine echte Fragen, nur in seinen Wickius-Texten Andeutung an IRGENDWELCHE Krimis abgibt, die man dann gefälligst zu erraten hat. Bei der Klausur muss ich übrigens fehlen, weil ich bis Juli FERIEN habe.

    Ludger
    *macht die Biege
    **biegt die Macht

  12. Liebe anobella, ich würde bei mir lieber nicht abschreiben. Ich unterstütze dich bei dem Ersuchen um eine MULTIPLE-CHOICE-KLAUSUR. Wenigstens erkenne ich dann gelegentlich was wieder, was ich schon gelesen habe. Hoffe ich. So ein Streß.
    LG
    barb
    *ist noch lange nicht in Ferien, im Gegenteil.

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