„36, Yalta Boulevard“ (Titel der britischen Ausgabe: „The Vienna Assignment“) ist das dritte Buch einer fünfteiligen Serie, die ihren Anfang im Bukarest der 40er Jahre nahm. Rumänien, Unterdrückung durch das kommunistische Regime … die Bücher atmen den Geist von Spionagekrimis. Dennoch, die ersten beiden Bücher waren doch eher „police procedurals“ , die ihren besonderen Reiz daraus zogen, dass sie in einem repressiven Staat spielten, in dem auch Polizisten jederzeit Opfer von Willkürmaßnahmen werden konnten. Immer mit dabei, immer dezent im Hintergrund und von allen gefürchtet war Brano Sev, Mitarbeiter der geheimen Staatssicherheit, dessen Schreibtisch im Großraumbüro der Kriminalpolizei untergebracht war.
Doch die Winde wechseln schnell – wer wüsste das besser als Brano Sev. Plötzlich ist er es, auf den sich die Aufmerksamkeit seiner Kollegen richtet. Als er 1966 zurück von einem Einsatz aus Wien kommt, wird ihm die Sabotage einer dort schiefgegangenen Aktion vorgeworfen. Er landet erst im Keller der Geheimdienstzentrale ( eben in jenem Yalta Boulevard) und später, mit sehr viel Glück, am Fliessband einer Fabrik.
Er erhält eine zweite Chance und soll einen Dissidenten observieren. Und erneut wird versucht, ihm ein Vergehen in die Schuhe zu schieben, so dass ihm nichts anderes übrig bleibt, als gemeinsam mit dem Observierten die Flucht nach Wien anzutreten. Dort angekommen, weiß Sev erst nicht recht, was er tun soll. Aber er ahnt, dass dort noch eine Aufgabe zu erledigen ist. Der österreichische Geheimdienst beschattet ihn, eine amerikanische Privatorganisation zur Befreiung Osteuropas taucht auf und er selber meint den geheimnisvollen Maulwurf im rumänischen Geheimdienst mit dem Namen Gavrilov ausfindig machen zu müssen.
Es ist für Sev eine unsichere Zeit in Wien, nicht nur dass er, der erfahrene Geheimdienstler, Schwierigkeiten hat, zu deuten, was da von ihm erwartet wird und wie er sich zu verhalten hat, nein, auch sein Herz meldet sich plötzlich zu Wort und versucht ihn davon zu überzeugen, dass ein ruhiges beschauliches Leben in Kärnten den unsicheren Zeiten vorzuziehen sei.
Die bisherigen Bücher Steinhauers sind nicht nur atmosphärisch dichte Krimis, welche auch das Seelenleben ihrer Helden ausloten, sondern auch immer Krimis zum Miträtseln. In „36, Yalta Boulevard“ sind die Schlüsse die Sev zieht, wenn er denn aus seiner Selbstbezogenheit auftaucht, jedoch so rasant und blitzschnell, dass ein Mitraten nicht wirklich möglich ist. Aber darauf, so scheint es mir, kommt es nicht an. Der tiefe Blick in das Seelenleben einer Person, welches sich auf einmal ganz anders darstellt, als es die von anderen ängstlich beobachtete Figur der ersten beiden Bände vermuten ließ, es ist, welcher das Buch dominiert.
Steinhauers (zeitlich) rückwärts gewandter Blick hinter den eisernen Vorhang knüpft ein wenig an die Erzählungen Alan Fursts oder Eric Amblers an. „36, Yalta Boulevard“ ist ein Buch welches den Geist der 60er Jahre heraufbeschwört; Wien, gerade erst in die Selbstständigkeit entlassen worden, hat sich schon als Sammelpunkt für osteuropäische Emigranten etabliert. Und wenn die Lage hinter dem Vorhang auch nicht unproblematisch für die „Schutzmacht“ ist: Es ist noch nicht Zeit für Revolutionen.
Olen Steinhauer: The Vienna Assignment.
Harpercollins 2006. 384 Seiten. 10,80 €
(noch keine deutsche Übersetzung)