(Unsere neue Montagsserie ist ein Kriminalroman der besonderen Art. Zunächst: Er spielt in der Zukunft. Dann: Es wird nicht gemordet. Weiter: Sein Gegenstand ist der Kriminalroman selbst und wie er Wirklichkeit herstellt oder abbildet oder was auch immer. Am Ende gibt es auch keine Lösung, sondern nur Lösungen. Das heißt: viele Fragen.)
Wir schreiben das Jahr 2401. Alles Wissen über die Vergangenheit des Planeten vor dem Jahr 2239 ist nach einer, hier nicht näher zu spezifizierenden Katastrophe vernichtet worden. Alles Wissen? Nein, ein Stapel Kriminalromane aus dem Jahr 2007, sämtlich deutschsprachige oder im deutschsprachigen Raum verlegte, ist erhalten geblieben. Special Agent Müller vom Büro für die Rekonstruktion der geschichtlichen Vergangenheit erhält die undankbare Aufgabe, die gesellschaftlichen Zustände des Jahres 2007 aus den verbliebenen Texten zu destillieren. Frage: Geht das überhaupt? Wenn ja: Was findet er heraus?
Wir beneiden Special Agent Müller nicht um seine Aufgabe. Dabei ist der Bursche als Angehöriger der Klonklasse M1 (siehe Anmerkung) doch so schlau. Wenige Wochen, nachdem er den Auftrag übernommen und sich frisch ans Werk gemacht hat, treffen sich Müller und seine Kollegin Schulz (Klonklasse F1) in der Kantine der Behörde. Es gibt Kunstlachs in Senfsoße, allemal Grund genug, warum Müller eher depressiv aus der Wäsche schaut. Oder drückt noch etwas anderes auf sein Gemüt? – Lauschen wir kurz in das Gespräch zwischen Müller und Kollegin Schulz.
Schulz (lauernd, kauend): Na? Wie siehts aus mit der Wirklichkeit 2007? Schon irgendwelche Erkenntnisse?
Müller (kauend, schweigend):—
Schulz (kauend, grinsend): Verstehe, da hilft auch ein DPR in der Klonklasse nicht weiter. Krimis! Was hab ich aufgeatmet, als die 2397 endgültig verboten wurden! Is doch nur Fiktion! Hirnschiss! Soll die Phantasie anregen, die Adrenalinproduktion steigern, versteckte Aggressionen ins Harmlos-Literarische umleiten und ohne Schaden für Dritte zur Abfuhr bringen. Also alles GEGENWIRKLICHKEIT! Man hätte glatt annehmen können, unsere Welt wäre abgrundtief verkommen oder aber, wir müssten uns eine solche Negativrealität konstruieren, um unsere allgemeine Langeweile aushalten zu können. — Uh, jetzt spricht wieder die Heidi Klum aus mir.
Müller(kauend, kopfschüttelnd): Nee, nee, so ist das nicht, Kollegin. Wenn du die Romane gelesen hättest, stünde dir das Jahr 2007 schon einigermaßen realistisch vor Augen. Es geht um Profit, um den sich längst organisiertes Verbrechen kümmert, die Polizei ist abwechselnd machtlos und korrupt, das Schlechte siegt und die Guten gehen vor die Hunde. Eine Frau ist an der Macht; muss damals wohl was Besonderes gewesen sein. Und mit dem Klima hatten sie Trouble, mit einer Spezies auch, die „Arbeitslose“ genannt wird, was immer das auch gewesen sein mag. Außerdem: Eskapismus, wo man nur hinschaut. „Historische Kriminalromane“! Wenn sich einer für Geschichte interessiert, hat er Angst vor der Gegenwart. Is doch so.
Schulz (kauend, enttäuscht): Dann hast du ja doch was rausgefunden?
Müller (kauend, kopfschüttelnd): Ja. Und Nein. Ich glaub nämlich, wir sind total auf dem Holzweg, was die Wirklichkeit anbetrifft. Das läuft doch letzten Endes nur wieder auf Daten und Fakten hinaus, wie immer.
Schulz (nicht mehr kauend, sinnierend): Ja, hm, Daten und Fakten… Dass der große Führer Xenopi – du weißt schon, der 2230 die Revolte in der Marskolonie niedergeschlagen hat – nur vier Stunden zu schlafen pflegte und zum Frühstück gebratenes Fischsperma aß – so was in der Art. Das ist Wirklichkeit. So what?
Müller (auch nicht mehr kauend, langsam begeisterter werdend): Eben! Was ist aber Wirklichkeit nun, hm, wirklich? Deine zum Beispiel. Was ist deine Wirklichkeit?
Schulz (überlegend): Das muss ich überlegen…
Müller (triumphierend grinsend, wieder kauend): Siehst du! Du musst überlegen! Was machst du also? Du findest Worte. Du ordnest. Du bewertest. Du findest eine Form für deine Worte. Kurzum: Du schreibst einen Text.
Schulz (ein wenig verblüfft): Soll heißen – Wirklichkeit existiert nur in Texten irgendwelcher Art?
Müller (nickend): Jawoll! Wirklichkeit ist ein im wahrsten Sinne „Kunstprodukt“.
Schulz (kaut auch wieder, verzieht das Gesicht, aber nicht nur der Kunstlachses wegen): Meine Genmitmutter Anobella würde jetzt sagen: ‚Was soll der verschwurbelte Scheiß’? Ich werde mich etwas zivilisierter ausdrücken: Wenn die Wirklichkeit nur als Kunstprodukt existent ist, wie heißt dann das, woraus sie sich bedient? Der Steinbruch sozusagen…
Müller (hört auf zu kauen, euphorisiert): Genau! Der Steinbruch! Wir brechen uns Stücke aus dem nicht Fassbaren und bauen damit die Wirklichkeit. Als Text. Die Wirklichkeit? Ist eine Karikatur unserer großen Romane!
Schulz (misstrauisch, hat auch aufgehört zu kauen, fängt jetzt wieder damit an): Das stammt jetzt aber nicht von dir, gelt?
Müller (unsicher): Weiß nicht…
Schulz (energisch, kauend): Das ist mir alles viel zu theoretisch. Was bedeutet das denn nun für diese Krimis? Wenn die die WirklichkeitEN sind, was erzählen sie uns über DIE Wirklichkeit, die es als Text gar nicht gibt?
Müller (kaut zu Ende, überlegt): Gut; gehen wir in die Praxis. Nehmen wir einen Titel aus dem Jahr 2007, von einer gewissen Andrea Maria Schenkel, „Kalteis“. Kalteis ist ein perverser Frauenmörder aus den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts, „authentischer Fall“, wie es so schön heißt, also Wirklichkeit pur. Natürlich alles Blödsinn. Frau Schenkel befand sich in der gleichen Situation wie ich. Sie hat versucht, ein Stück Wirklichkeit aus der Vergangenheit zu rekonstruieren und musste sich dazu all jener Wirklichkeiten bedienen, die nur deshalb Wirklichkeiten waren, weil sie als Texte etwas zu fassen versuchten, das außerhalb des Textualen SO niemals existiert hat. Frau Schenkel hat das Ganze als Krimi verkauft, was nun wiederum konsequenterweise dazu führen musste, sich immer weiter von dem zu entfernen, was den Steinbruch der Alltäglichkeit ausmacht, in dem wir völlig unstrukturiert und ohne wirkliche Begrifflichkeiten für die Dinge existieren. Denn Krimis können nicht den Alltag als Wirklichkeit darstellen, denn nichts ist langweiliger als das Alltägliche und die wirklich großen, die wirklich perfekten Verbrechen sind immer Verbrechen der Alltäglichkeit. Sie bleiben unbeachtet und ungeahndet. Krimis sind also Abbildungen einer Wirklichkeit, die sie selbst geschaffen haben und deren Hauptcharakteristikum es ist, dass sie die Dinge überzeichnen und verdeutlichen müssen.
Schulz (nicht überzeugt, kaut nicht mehr, der Teller vor ihr ist leer): Das muss ich jetzt erst mal ebenso verdauen wie diesen, äh, Kunstlachs? Die Rekonstruktion von Wirklichkeit ist also zwar ohne weiteres möglich, aber diese Wirklichkeit hat nichts mit dem Leben zu tun. Stimmt das?
Müller (dramaturgisches Päuschen; kaut ebenfalls nicht mehr): ….nein. Denn es gibt noch eine Wirklichkeit abseits der Daten und Fakten. Es ist die Wirklichkeit der Denk- und Verhaltensweisen. Warum hat Frau Schenkel dieses Buch überhaupt geschrieben? Warum so und nicht anders? Oder warum hat Horst Eckert seinen Roman „Königsallee“ als krachende Satire angelegt, zum Teil jedenfalls? Warum nimmt man diese Stücke aus dem Steinbruch und nicht andere? DAS sind die Botschaften, die uns alte Krimis übermitteln. Nicht die Arbeit der Wirklichkeitserschaffer selbst ist das Interessante, sondern die Art und Weise, wie sie gearbeitet haben. Und warum so und nicht anders. Aber das ist ein weites Feld.
Schulz (steht auf): Weites Feld, ja. Gehst du noch mit auf nen Verdauungsspaziergang? Nie hatte ich ihn nötiger…
dpr
Anmerkung: Seit 2187 werden Menschen nicht mehr gezeugt, sondern ausschließlich geklont. Auslöser war der Bestseller von Professor Deuth, „Der Fortpflanzungstrieb als Krankheit und wie man diese Krankheit heilt (regelmäßiges Kaltduschen)“, 2156 erstveröffentlicht. Die Bewohner des Planeten Erde lassen sich seither in jeweils zehn Klassen für Männer (M1-10) und Frauen (F1-10) unterteilen. Special Agent Müller z.B. ist als Angehörige von M1 aus dem gemischten Genpool „DPR-Einstein-Grass“ geklont worden, der als „Krone der Schöpfung“ gilt, im Gegensatz etwa zu M10, einer genetischen Mixtur aus Menke-Bohlen-Uwe Seeler. Führend bei den Frauen ist das wunderbare Gengemisch F1 (Anobella – Claudia Roth – Heidi Klum).
könntest du bitte aufhören, mich mit claudia roth in verbindung zu bringen …?!
*liest arglos dpr´s texte, und taucht plötzlich in abstrusen zusammenhängen darin auf
Ach? Aber gegen Heidi Klum hast du natürlich nichts einzuwenden! Immer nur die Sahnehäubchen!
bye
dpr
*versteht die Frauen
**würde sie lieber NICHT verstehen
***versteht nicht, was er da versteht
wer ist heidi klum?