Auch der Krimikritiker strebt manchmal nach Höherem. Eine gute Story ist eine gute Story, aber sie wird besser, wenn sie sich ins Bedeutend-Allgemeine transponieren lässt. Jedenfalls für den Kritiker, dem sich dann die Gelegenheit bietet, von pars pro toto oder gar der Welt in nuce zu raunen. Das ist Feuilleton. Die Kunst, im Kaffeesatz des Mediokren die Umrisse des eigenen Bildungsschrotts zu zeichnen. Rick DeMarinis’ Roman „Kaputt in El Paso“ ist so ein Text, der die Ambition des Kritikers, mehr zu sein als nur Buchbesprecher, geradezu verschwenderisch füttert. Gleichzeitig ist dieser Text aber so gelungen, dass ihm jeder Versuch, mehr aus ihm zu lesen als in ihm steht, nur schaden kann.
Uriah Walkinghorse ist ein in die Jahre gekommener Bodybuilder. Er hat als Mathematiklehrer gearbeitet, jetzt aber kümmert er sich als Hausmeister eines heruntergekommenen Appartmenthauses vorzugsweise um verstopfte Klos. An Geld mangelt es natürlich immer, und so nimmt Uriah das Angebot an, als „Henker“ in einem SM-Studio anzuheuern, um devoten Kunden durch das Schwingen des Hackebeilchens den sexuellen Abgang zu versüßen.
Leider geht gleich Uriahs erster Einsatz gründlich schief. Der Kunde, ein stadtbekannter und einflussreicher Banker, stirbt. Mit Hilfe der nicht sehr trauernden Witwe wird die Tat vertuscht, das Problem elegant gelöst. Für Uriah beginnen nun aber erst die Probleme, denn dieser Banker war nichts weiter als ein Strohmann für Drogendealer, die Bank selbst eine gigantische Geldwaschanlage und unser Teilzeithenker findet sich mithin als lästiger Zeuge wieder. Nachdem der Versuch, Uriah erpressbar zu machen, gescheitert ist, greifen die Drogenbosse zum ultimativen Mittel. Uriah muss sterben. Der hat sich inzwischen in die Witwe verliebt (glaubt er wenigstens) und damit ein Problem mehr.
Der Mann scheint also ziemlich kaputt, aber noch nicht kaputt genug. Unser Protagonist ist ein Pflegekind, seine „Geschwister“ eine repräsentative Weltmischung aus Asiaten und Schwarzen, ehrbaren Bürgern und Junkies, Erfolgsmenschen und Versagern. Jetzt sitzt der Pflegevater delirierend mit Jesus Christus am Küchentisch und weigert sich, in ärztliche Behandlung zu gehen.
Das genau ist der Punkt, an dem der sich zu Höherem berufen fühlende Kritiker aufmerkt. Komische Familie, denkt er. Könnte das nicht…repräsentative Weltmischung…eine Familie vom Zerfall bedroht…aber klar doch! DeMarinis’ Text ist eine PARABEL! Es geht nicht um El Paso, es geht um die ganze Welt, in der man kaputt sein kann, weil sie selbst kaputt ist.
So könnte man den Text lesen. Die ganze Handlung quasi eine Ebene höher im Bedeutend-Allgemeinen verankern – und gar nicht merken, was einem entgeht. Denn tatsächlich steht das, was uns DeMarini erzählt, weder zwischen den Zeilen noch im Nirvana der intellektuellen Transferleistungen. Es steht im Text, es wird offenbar durch des Autors große Kunst, Personen zu zeichnen.
Diese Personen haben es in sich. Sie sind niemals eindimensional oder von jener Unverwechselbarkeit, die herzustellen angeblich das Können des Autors ausmacht. Vergessen Sie diesen Schwachsinn aus dem Lehrbuch „Wie schreibe ich einen Krimi“. DeMarinis gönnt uns zu fast jeder seiner Figuren zwei Blicke aus gegensätzlichen Perspektiven, was einerseits der Genauigkeit dient, andererseits jedoch jedwede Hoffnung, man verstehe diese Person nun „besser“, zunichte macht.
Nehmen wir das seltsame SM-Geschäftspärchen mit den bereits ziemlich versauten Kindern. Das ist irgendwo widerlich, aber zugleich idyllisch. Oder den Barbesitzer, der eigentlich Universitätsdozent ist, aber wegen Körperverletzung geschasst wurde. Jetzt hängt er große Tafeln mit Beispielen für grammatische Schnitzer in seinem Geschäft auf („In Buttter getunkt, kann man das köstliche Aroma des Hummers so recht genießen.“). Das ist idealistisch und gleichzeitig vergeblich. Wir werden mit einem Ehepaar bekannt, dessen Klo ständig verstopft ist, weil es ihn mit der Mülltonne verwechselt. Komisch; tragisch. Oder der Drogenboss, der uns erklärt, warum die USA an allem schuld sind. Das ist wahr – und verlogen.
Die zerrissenste Person ist natürlich Uriah Walkinghorse selbst. Er verliebt sich, weil er genau weiß, dass er diese Person, in die er sich verliebt, gar nicht liebt und auch nicht geliebt wird.
Das alles ist, man sollte es nicht vergessen, wunderbar pulp. Es wird gemetzelt und geprügelt, Personal aus dem PULP-Geschichtsbuch gibt sich die Ehre, eine bisexuelle Bodyguardin etwa oder der eigentlich ganz nette Killer, dem irgendwann genregerecht die Ohren als Trophäe abgeschnitten werden.
So entsteht eine dichte Story mit dem, was man „glaubwürdige Figuren“ nennt, aber sie sind glaubwürdig, weil man sie nicht fassen kann. Wer nun das Ganze auf Weltniveau hochrechnen möchte, kann es natürlich tun. Nur: wozu? Vielleicht ist El Paso wirklich nur der Teil, der für das Ganze steht. Der Roman indes ist so gut, dass es schwerfällt, ihn zugunsten allgemeiner Überlegungen zu verlassen. Und ganz nebenbei ist er der Beweis dafür, dass auch intelligente Menschen gute Krimis schreiben können.
Rick DeMarinis: Kaputt in El Paso.
Pulp Master 2007 (Original: „Sky Full of Sand“, 2003)
deutsch von Frank Nowatzki und Angelika Müller).
342 Seiten (plus ein unpaginiertes und informatives Nachwort von Ekkehard Knörer). 13,80 €
Gut getroffen. Genauso ist es. DeMarinis zeigt, was Kriminalliteratur alles kann. Und das ist eine ganze Menge.
Warum macht der Leser, der sich für Familienstrukturen interessiert, den Text zur Parabel? Warum hebt jemand einen Text ins ‚Bedeutend -Allgemeine‘, der sich für die Strukturen der Textwelt interessiert? Und warum ist glaubwürdig, was nicht zu fassen ist (und auf diese Weise doch gefaßt wird)? Bildungsschrott?
Nein,lieber JL, nicht „der Leser, der sich für Familienstrukturen interessiert“, macht den Text zur Parabel, sondern der Leser, der diese Familienstruktur ins Bedeutend-Allgemeine überführt und „die Welt“ darin erkennt. Sobald das nämlich hier geschieht, interpretiere ich alles vor dieser Folie „Welt“. Ist nicht prinzipiell verwerflich, nur führt es gerade bei DIESEM Roman dazu, dass mir die Schönheiten der Details entgehen.
Dass was „nicht zu fassen ist“, eben „auf diese Weise doch gefaßt“ wird, hab ich nicht verstanden. Wenn ich behaupte, jemanden nicht zu kennen, dann kenne ich ihn dadurch, ihn nicht zu kennen? Schön wärs ja.
bye
dpr
Lieber dpr,
(a) erfassen vs. ‚kennen‘: das Beispiel funktioniert für mich nicht, so lange Sie mit ‚Jemanden kennen‘ (oder nicht) eine Alltagsunterscheidung bezeichnen, die ich nicht auf die Lektüre eines literarischen Textes beziehen kann. Hier wäre die ‚Nicht-Erfassbarkeit‘ einer Figur Ergebnis der Lektüre — also der Deutung durch den Leser, und damit eben doch die Erfassung dieser Figur (ob’s dann dem Text gefällt oder nicht).
(b) Familie: da sind Sie mit Sieben-Meilen-Stiefeln unterwegs, über die ich nicht verfüge. Es gibt Texte, die eine solche Beziehung Familie : Welt (synekdochisch, homolog, wie auch immer) der Lektüre anbieten. Dies zu fragen, wäre doch nicht eine Verschiebung ins ‚Bedeutend-Allgemeine‘, sondern allenfalls eine Lesemodell, über das man dann diskutieren könnte. Was hätte das aber mit ‚raunen‘ zu tun?
Sei’s drum: beste Grüße!
Ich könnte jetzt natürlich damit kontern, dass auch Alltagsunterscheidungen eine „Deutung“ vorausgeht…aber damit geraten wir ins Grundsätzliche wie bei der Frage, ob Lesen Bilder „erzeugt“…
Sie werden lachen: Ich könnte mir sogar vorstellen, dass DeMarinis eine solche Beziehung Familie-Welt als Lesemodell anbieten wollte. Und natürlich wäre das eine Erhebung ins Bedeutend-Allgemeine, was gewisse Lesemodelle einfach vorgeben. Kann man ja auch machen, meinetwegen. Aber Sie verlieren dabei den Krimi aus den Augen, und die Tatsache, dass in einem solchen Familie-Welt-Lesemodell etwas „erfasst“ werden MUSS, das der Autor in einem anderen Lesemodell nicht so vorgesehen hat.
bye
dpr
Deutung ja, aber nicht (z. B. eine Begegnung im Straßenverkehr vorausgesetzt) durch einen ‚Leser‘.
Leute, Leute,
was sind das nur für Spiegelfechtereien!? – „Kaputt in El Paso“ wird doch vor allem durch die vielen kleinen „Grenzerfahrungen“ interessant, die der Roman ins Blickfeld nimmt: Die U.S.-mexikanische Grenze, die den Habitus einer Berliner Mauer hat, das Sex-Business, das sich schon seit Zeiten und längst nicht mehr im Dunklen und rein Privaten abspielt, das Patchwork-Familien-Chaos, welches sich an verblichenen Vorstellungen von bürgerlich-familiärem Leben mißt, die Situation eines abgetakelten Body-Builders, der einfach und auf bittere Weise merkt, wie er langsam alt wird, eine schräge Personenkonstellation, die völlig aus ihrer bis dahin festgeschriebenen Konstellation entgleist, und, und und …
Und da salbadert Ihr über „Bildungsschrott“ und existenziellen Bewußtseinskram?
Vielleicht solltet Ihr das kleine kompakte Ding namens „Kaputt in El Paso“ einfach noch einmal lesen?
Liebe/r Herschel, wir widersprechen uns doch gar nicht. Sie nennen es Grenzerfahrungen, ich arbeite das nicht Greifbare heraus, was Grenzerfahrungen ja naturgemäß innewohnt („Entgrenzung“). Und zum Spiegelflechten und Salbadern gibt es morgen einen längeren Text, von dessen Notwendigkeit Sie mich mit Ihrem Kommentar überzeugt haben. So soll das sein. Das ist Bloggen.
bye
dpr
spiegelflechten?
*kippelt im stuhl
Als Pazifist liegt mir flechten natürlich näher als fechten. Was man im kriegerischen Hessen natürlich nicht nachvollziehen kann!
bye
dpr
*liebt dich
Liebt dich zurück.
bye
dpr