Karl Friedrich von Linden: Die Süßen

Es beginnt à la genre: In einem Park wird die Leiche eines jungen Mannes entdeckt, erwürgt, erkennbar ein jugendlicher Stricher. Die Polizei nimmt die Ermittlungen auf. Doch was dann folgt, widersetzt sich unseren Vorstellungen von „Krimi“. Kein Wunder. Denn Karl Friedrich von Lindens Roman „Die Süßen“ ist ein Krimi von 1909…

… und Karl Friedrich von Linden ein bis heute nicht aufgelöstes Pseudonym. Je weiter man in den „Süßen“ liest, desto verständlicher wird der Entschluss des Autors, sich bedeckt zu halten. Denn „die Süßen“ sind nicht nur ein Sammelsurium verpönter Leidenschaften und daraus resultierender Verbrechen, sondern auch ein Schlüsselroman. So ist es etwa offensichtlich, dass sich hinter dem reichen Reeder Bork niemand Geringeres als der Industrielle Krupp verbirgt. Und da Bork der Knabenliebe frönt und aus Eifersucht oben erwähnten Strichjungen ermordete, ist das eine heikle Verbindung.

Von Lindens Roman spielt überwiegend im Berlin des sogenannten „Dreikaiserjahres“ 1888, als gleich zwei Regenten kurz hintereinander das Zeitliche segnen und mit Wilhelm II der finale Totengräber der Monarchie auf den Thron gelangt. Das Deutsche Reich, gerade einmal 17 Jahre alt, boomt, Berlin verändert sich, man baut „moderner“, die unteren Schichten werden zunehmend ghettoisiert. Aus diesen Schichten stammt Anton Pickert, eigentlich der Protagonist des Romans, ein Stricher, Erpresser und schließlich auch noch Mörder. Er arbeitet sich in die höheren Kreise des zumeist uniformierten Adels hoch, wo nicht nur hübsche Knaben vernascht werden, sondern auch betrogen, verkuppelt, spioniert und intrigiert, ein munteres Gesetzesbrechen also und weit und breit niemand, den es wirklich stört.

Dennoch sind „die Süßen“ weit mehr als ein gegen Adel und sonstige Oberschicht gerichtetes Pamphlet. Wir lernen auch einen Sozialistenführer kennen, der ein vierzehnjähriges Mädchen (die Schwester Pickerts) vergewaltigt, das sich schließlich, weil in anderen Umständen, das Leben nimmt. Und auch die schöne Gräfin Rospine, in vielem eine emanzipierte Frau, wird als Kupplerin, Spionin, Mörderin und Liebhaberin des eigenen Geschlechts geoutet.

Durch diese Abgründigkeiten bewegt sich Anton Pickert, den wir getrost als den einzigen ehrlich arbeitenden Verbrecher des Romans hervorheben können. Ständig unterwegs, ständig auf der Lauer, völlig herzlos und brutal, sucht er seine Chance. Er ist der kleine Mann, der virtuos mit den Schwächen der Großen spielt – und am Ende folgerichtig als einziger seine gerechte Strafe empfängt. Denn nur Pickert geht es an den Kragen, alle anderen kommen ungeschoren oder mit einem blauen Auge davon.

Keine Rätselraterei, keine Ermittlung (der zuständige Beamte wird selbst ermordet), keine Bestrafung. Stattdessen bewegen wir uns zwischen den morschen Pfeilern einer degenerierten Gesellschaft, die Gefangene sowohl ihrer Leidenschaften als auch ihrer Pflichten ist und sich noch über die Zeit rettet. Das ist recht eigentlich ein Noir avant la lettre, eine teilweise in deftige Kolportage gepackte Verdichtung von Symptomen eines krankhaften Zustands, wie sie nur Zeit- und Leidensgenossen gelingen kann. Nicht den beliebten und angeblich so akribisch recherchierten „historischen Krimis“, denen wir auch weiterhin die Fakten aus den Geschichtsbüchern überlassen wollen. Was von Linden aus der guten alten Zeit zu berichten hat, findet sich dort nicht.

Also ein Lesetipp. Die leise Klage darüber, dass der Roman in seiner Neuauflage um einen angeblich misslungenen Handlungsstrang gekürzt wurde, sehe man einem Puristen wie mir bitte nach.

Karl Friedrich von Linden: Die Süßen. 
Männerschwarm Verlag 2007. 270 Seiten. 16 €

10 Gedanken zu „Karl Friedrich von Linden: Die Süßen“

  1. Lieber dpr,

    das klingt so interessant, daß ich mich gleich daran gemacht habe, ein Originalexemplar aufzutreiben: Fast vergeblich, denn den der einzige Treffer, den ich (mit Worldcat) landen, ist die die UCLA-Library, die „Budapest : G. Grimm, 1909“ angibt. Bei G. Grimmm sind um 1900 neben Zola zahlreiche ‚pikante‘ Titel erschienen. Aber ich will Sie nicht langweilen, sondern die Frage loswerden, ob die Hg. der besprochenen Ausgabe von 2007 angeben, welche Vorlage sie benutzt haben (denn die Kürzerei ist eine Pest, da sind wir uns einig).

    Dank im voraus: JL

  2. Sorry für „Fast vergeblich, denn den der einzige Treffer, den ich (mit Worldcat) landen“ — muß natürlich heißen „denn der einzige Treffer, den ich landen konnte“

  3. Ich habe im Moment das Buch leider nicht greifbar, aber die Vorlage wird angegeben. Könnte Grimm sein; ich schaue heute abend gleich mal nach.

    bye
    dpr

  4. Von der Homepage des Verlags:
    „Die Süßen ist 1909 im Verlag von Carl Freund erschienen; wir legen eine leicht gekürzte Fassung vor.“

    bye
    dpr

  5. Wenn so gründlich gelesen und so schön besprochen wird, muss ich mich wohl für die Kürzung entschuldigen. Als tätige Reue biete ich an, dass interessierte Leser eine Kopie der fehlenden Passagen beim Verlag anfordern können (verlag@maennerschwarm.de). Als Verlag muss man halt abwägen, ob 50 Seiten mehr und ein entsprechend höherer Verkaufspreis zum Zwecke der Originaltreue in Kauf zu nehmen sind, wenn auf diesen Seiten einerseits die Spannung der Geschichte gekillt wird und zudem nur ganz unsinnige Dinge geschehen. Dass die in der Besprechung erwähnte Gräfin Rospine für Russland spioniert, ist sicher noch plausibel, aber warum der Gauner Pickert nun wiederum die Gräfin ausspioniert und die so gefundenen Staatsgeheimnisse in verschiedenen Zeitschriften veröffentlichen lässt, wozu er die Redakteure auch noch durch Erpressung zwingt (!), ohne davon irgend einen eigenen Vorteil zu haben, schien mir wirklich allzu abstrus.

  6. Mein lieber Herr Bartholomae,

    das ist zum einen natürlich eine Grundsatzfrage, ob ich einen solchen Text überhaupt kürze oder nicht. Im Falle der Süßen habe ich zudem den Verdacht, dass durch diese Kürzungen selbst einige andere Handlungsstränge leicht in Mitleidenschaft gezogen wurden. Vielleicht täusche ich mich. Wäre kein Beinbruch – trotzdem.
    Mein Haupteinwand gegen die Kürzungen ist allerdings der, dass es die Hauptperson des Romans, unseren Freund Anton Pickert beschädigt. Der ist – in meiner Lesart – ein unermüdlich um seinen Vorteil bemühter Ganove, ein Fisch im trüben Wasser der Gesellschaft, sozusagen. Er tut etliche Dinge, die man eigentlich als „unlogisch“ bezeichnen müsste. Die finale versuchte Entführung von Borgs Enkel etwa. Oder die Denunziation von der Marks bei der Polizei (mit den bekannten Folgen). Seine Anstrengungen um Vorteile, um das Überleben in dieser Welt sind geradezu manisch – und da nun, denke ich, hätte auch die Spionagegeschichte reingepasst.
    Wie gesagt: Das ist MEINE Lesart. Den Roman empfehle ich aber auch in seiner gekürzten Form aus- und nachdrücklich.

    bye
    dpr

  7. Lieber dpr,
    zwar haben Sie in gewisser Weise recht, jedoch ist Ihre Auffassung der Figur des Pickert so rundum zutreffend, dass die fehlenden Passagen diesem Bild kaum weitere Nuancen hinzugefügt hätten – allenfalls natürlich die, dass er im Machtrausch des Erpressers schließlich damit beginnt, unsinnige Dinge zu tun. Nur wie schon gesagt: die Mundpropaganda ist die wichtigste Verkaufshilfe, die wir als Verlag bekommen, und dafür spielt es eine Rolle, wenn ein insgesamt packender Roman sich im letzten Drittel in Belanglosigkeiten verläppert, so dass der Leser sich beim Zuklappen des Buchs evtl. vor allem an den missglückten letzten Teil erinnert – und das wäre doch schade! Hätte ich als Lektor mit Herrn von Linden gearbeitet, ich hätte ihm diese Passagen mit Nachdruck ausgeredet.
    Natürlich stellen Sie sich möglicher Weise andere Dinge vor, die der Streichung zum Opfer gefallen sind, als es tatsächlich der Fall ist. Glauben Sie mir: wenn sich der Autor nicht mehr wehren kann, geht man nicht leichtfertig mit Streichungen um.

  8. Liebe Diskutanten,

    ich bin ja in einer schlechten Situation, da ich den Text noch nicht gelesen habe, aber schon um der historischen Situation willen bedaure ich die Kürzung: Publikation 1909 und wohl in Budapest, während 1908 die Harden-Eulenburg-Affäre juristisch aufgearbeitet wurde. Da wurden in der Tat Staatsgeheimnisse in den Medien breitgetreten und journalistisch in trüben Gewässern gefischt …

    Beste Grüße!

  9. Nein, Leichtfertigkeit will ich Ihnen auch gar nicht unterstellen. Mir sind auch die ökonomischen Überlegungen, die Sie naturgemäß anstellen müssen, nicht fremd. Dennoch bin ich mal auf den explantierten Text gespannt…

    bye
    dpr

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