„Die Speiche“ („Krock & Co“) ist ein Nebenwerk Friedrich Glausers, als bestellter Fortsetzungsroman für die Zeitung geschrieben, Stoff, Bearbeitung und Umfang im diktatorischen Korsett des Mediums, kurz, in des Autors Worten: „der Mist“.
Darf man ihm glauben? Gerade einmal 130 Druckseiten lang begleiten wir Wachtmeister Studer durch seinen verzwickten Fall in einem Hotel im Kanton Appenzell, wo er doch eigentlich nur die Hochzeit der Tochter feiern wollte, aber dann wird ein windiger Typ mit einer Fahrradspeiche erstochen, der sofort verdächtigte „Velohändler“ war es natürlich nicht (so etwas weiß ein Studer instinktiv), ein zweiter Mord geschieht und – nun ja. Wie es halt so geht. Der Fall zieht seine Kreise, wird international, tangiert Hochfinanz und das bäuerliche Elend, beide stehen zueinander in einer unheilvollen Beziehung, es gibt eine Handvoll Verdächtiger, ein paar Theorien, deren Einzelteile nicht zusammenpassen wollen – und all das auf 130 Seiten, das kann nicht gut gehen.
Nur: Welcher Glauserleser klebt an der Logik des Rätselkrimis? Wie alle Krimis, die sich im Verlauf der Handlung heillos in ihren Abläufen verheddern, liefert auch „Die Speiche“ am Ende ein notdürftig vom Ermittler zusammendetektiertes Lösungstableau. Das ist ärgerlich, bei den meisten dieser Arbeiten jedenfalls, aber bei Glauser seltsamer Weise nicht.
130 Seiten: zu wenig für einen verwickelten Krimi. 130 Seiten: zu wenig auch für detailliert Atmosphärisches, wie es Glauser ja grandios schaffen konnte, gab man ihm nur den Raum, den er brauchte. Aber 130 Seiten Studer, wie er „Chabis!“ murrt und sich an seinen „Schulschatz“ (auch so ein Wort, bei dem einem das Herz aufgeht!) erinnert: das versöhnt doch halbwegs. Und 130 Seiten den von Termin und allen sonstigen Zwängen gepeinigten Glauser erleben, wie er virtuos Personal in einem Satz zeichnet. Die beiden Graf-Brüder etwa, deren psychische Gemengelage man nach diesen Sätzen sofort versteht: „’Wir beide, Wachtmeister’, sagte eine Stimme in der Dunkelheit, ‚der Ernst und ich, sind so kurios geworden, weil der Vater uns immer geschlagen hat. Alle hat er geschlagen, wenn er betrunken war. Die Mutter, den Hund, die Pferde, die Kühe. Und uns.’“ Oder wenn eine Wolke skizziert wird: „Im Osten lagerte eine Wolke und erinnerte an einen Feglumpen, mit dem man verschütteten Rotwein aufgenommen hatte.“ – das versöhnt nun ganz.
Wozu aber dient die Kriminalhandlung? Sie sorgt für die Energien, die in der Lage sind, die tektonischen Platten des Alltags zu verschieben, diesen Alltag und uns für kurze Zeit zu erschüttern und, wenn sich alles wieder beruhigt hat, jene Unordnung zurückzulassen, die auch nach den Aufräumarbeiten weiter im Gedächtnis bleibt. Dass dies funktioniert, dazu muss ein Krimi nicht unbedingt den ungeschriebenen (und geschriebenen) Gesetzen des Genres folgen. Und wo er es tut, muss er sie nicht vorschriftsmäßig erfüllen. Ein guter Krimi sollte auch immer ein guter Roman sein; ein guter Roman wächst aber auch aus einem (gesetz-) mäßigen Krimi. Manchmal. Selten. Bei Glauser: aber immer.
Friedrich Glauser: Die Speiche.
Unionsverlag 2005. 171 Seiten, 7,90 €
(Die Ausgabe folgt der im Limmatverlag verschienenen Werkedition
und wird durch einen Anhang mustergültig erschlossen.)