Die Woche der Erzähltheorie des Kriminalromans -3-

… mit einer Kritik von Mordecai Richlers „Cocksure“ und einem Rückgriff auf James Sallis‘ „Driver“

Statt der gewohnten Donnerstagskritik heute ein umfangreicher letzter Teil unseres Wochenthemas – mit eingebetteter Rezension. Eigentlich sollte die Rezension für sich stehen und der eher allgemein-theoretische Teil morgen folgen. Es ist natürlich anders gekommen… „Cocksure“ jedenfalls ist Klasse – nachfolgender Text zumindestens „komplex“ – und letztlich nicht mehr als eine nach Ausarbeitung schreiende Anfangsthese.

Was ist eigentlich der Unterschied zwischen dem Gehalt eines Textes und einer Geschichte? Wenn jemand ein Verbrechen begeht, von Ermittlern gejagt und schließlich zur Strecke gebracht wird, dann ist das unbezweifelbar eine Geschichte. Ihr eigentümlichstes Charakteristikum zeigt sich in der Inhaltsparaphrase, d.h. „die Handlung“ kann nacherzählt werden, ohne auf dazu zwingend notwendige Teile von ihr verzichten zu müssen. Dabei ist es unwesentlich, ob die Geschichte einen oder mehrere Erzählstränge aufweist. Wer gut nacherzählen kann, bekommt auch das in den Griff.

Auch von Bedeutung ist die fast völlige Abwesenheit von Analyse. Nacherzählungen sich de facto so objektiv, wie sie es nur sein können. Natürlich bedeutet jedes Nacherzählen zugleich auch Interpretation; sie bleibt aber in der Regell unreflektiert und orientiert sich am für das Repetieren Notwendigen oder Zuvernachlässigenden.

Der Unterschied zwischen Geschichte und Gehalt ist der zwischen einem Gesicht, das ich aus einer Entfernung betrachte, die mir seine vollständige Betrachtung erlaubt, und einem Gesicht, dem ich entweder zu nahe oder zu fern stehe, um es nacherzählend beschreiben zu können. Stehe ich etwa zu nah, sehe ich nur Details, die es hochzurechnen gilt. Stehe ich zu fern, habe ich lediglich einen Überblick, von dem ich ableiten muss. Immer aber verlasse ich mich auf Muster, auf eigenes Wissen und Erfahrungen. Eine Geschichte ist mir, selbst wenn sie mit meinem Alltag nichts zu tun hat (was in der Kriminalliteratur ziemlich häufig vorkommen dürfte) vertraut, weil mir ihre Abläufe, ihre innere Logik vertraut sind. Die Transferleistung, so es denn eine ist, besteht in der Rekonstruktion, dem Nacherzählen.

Das Erfassen des Gehalts jedoch verlangt von mir, eine Geschichte erst zu konstruieren, eine Geschichte, deren Details oder deren Umrisse ich wohl erkenne, aber nicht ohne weiteres paraphrasieren kann.

Gerade in der Kriminalliteratur werden Geschichte und Gehalt oft gleichgesetzt, was, überblickt man die Menge der gedruckten Verbrechen, auch legitim ist. Eine Story nachzuerzählen, stößt mich automatisch in die Mühlen des Genres, ich werde die Geschichte nach seinen Regeln rekonstruieren, also chronologisch und überhaupt logisch, wobei ich bemüht bin, ihre Spannungsbögen korrekt zu übernehmen. Ich werde die Nacherzählung kaum mit den Worten „Herr Müller hat Frau Maier ermordet, aber das erfährt man erst am Schluss“ beginnen, sondern vielleicht „Frau Maier wird ermordet und Kommissar Schmidt beginnt mit seinen Ermittlungen.“

In der Kriminalliteratur sind also Geschichte als kontinuierliche Abfolge von Handlungen und Gehalt als nur analytisch zu konstruierendes Sinnsystem oft deckungsgleich. Oder mit anderen Worten: Ich kann Krimis nacherzählen. Nehmen wir ein Beispiel, James Sallis‘ „Driver“.

Die knappe Geschichte ist mit wenigen Worten in ihrer Essenz zusammenzufassen. Ein Mann, Stuntman für Einsätze mit Autos beim Film, hat einen Nebenjob als Fahrer von Fluchtwagen bei Raubüberfällen. Er ist völlig auf seinen Job konzentriert, emotionslos. Einer seiner illegalen Jobs läuft aus dem Ruder, der Driver gerät in lebensbedrohliche Gefahr. Am Ende hat er aber auch diesen Job erfüllt.

Man könnte das natürlich noch mit Details ausschmücken, so wie man bei der Beschreibung eines Gesichts speziell die Form der Nase oder die Farbe der Haut hervorheben kann, aber nicht unbedingt muss. Die einzige Referenz an das im weitesten Sinne Analytische bestünde bei „Driver“ wohl darin, den Roman „kompakt“ oder „schlank“ zu nennen, ohne Füllmaterial verfasst.

„Driver“, kein Zweifel, lässt sich nacherzählen. Und Analyse / Kategorisierung / Bewertung fußen auf dieser Rekonstruktion der Geschichte, die ihrerseits alles an Inhalt erfasst, was im Text zu finden ist. Oder etwa doch nicht?

Man könnte nämlich „Driver“ auch als das erste Werk der Sekundärliteratur zum Krimi bezeichnen, das den Deutschen Krimipreis erhalten hat. Denn Sallis hat nicht etwa „eine Story“ geschrieben, sondern so gut wie alle Muster, Klischees, Gesten, Zeremonien und sonstigen Versatzstücke der Abteilung Hardboiled (und einige der Abteilung Noir) verwendet und zu einer Geschichte zusammengesetzt. All diese Einzelteile sind für sich und losgelöst von der Geschichte Gehalt und damit selbst potentielle Geschichten. Als Komposition erzählen sie die Story, sind kontinuierliche Ordnung, ein Gesicht, das ich aus einer für die Beschreibung („Nacherzählung“) idealen Entfernung betrachte. Aber je näher ich mir diese einzelnen Bausteine anschaue, desto diskontinuierlicher wird das Ganze. Es lässt sich nicht mehr nacherzählen oder: Wenn ich nacherzählen möchte, muss ich selbst Geschichten konstruieren. Vor der Repetition steht also die Analyse – nicht umgekehrt wie bei Romanen, die sich in der Geschichte erschöpfen. Dabei gibt es ein besonderes Phänomen zu beobachten. Die Geschichte von „Driver“ ist eine reinrassige Kriminalgeschichte, ja, sie kann als geradezu paradigmatisch für das Genre gelten. Betrachte ich mir dagegen die Einzelheiten, die Versatzstücke, schwindet das Kriminalliterarische immer mehr. Am Ende finde ich mich im Alltäglichen wieder.

Mordecai Richlers „Cocksure“, ebenfalls bei Liebeskind erschienen, ist von ähnlichem Kaliber – und weist das genau umgekehrte Phänomen auf. Denn ein Krimi im herkömmlichen Sinn ist „Cocksure“ nicht, ungeachtet der Morde und sonstigen Verbrechen, über die uns „die Story“ berichtet.

Sie versetzt uns in das London der legendären „Swinging Sixties“, als irgend etwas mit der tradierten Welt geschieht, aber keiner so recht weiß, was eigentlich. Die Röcke werden kürzer, die Haare länger, die Ansichten liberaler, die Drogen leichter zugänglich. Mortimer Griffin, Held der Geschichte, scheint von alledem noch weitgehend unberührt. Er lebt mit Frau und Sohn recht bekömmlich von einem Lektorenjob, schon recht oben auf der Karriereleiter, aber die nächste Sprosse warten bereits darauf, erklommen zu werden. Ja, gewiss, ganz frei von Irritationen ist Griffins Leben nicht. Er hält Vorträge über Literatur und wird von einem seiner Zuhörer, dem Herausgeber einer jüdischen Zeitschrift, mit der Verdächtigung gepiesackt, er, Griffin, sei selbst Jude. Aber unser Held ist weiß, angelsächsisch, protestantisch, doch indem er darauf besteht, kein Jude zu sein, verdächtigt man ihn als Antisemiten, denn etwas anderes kann es dann nicht geben.

Richtig in die Bredouille gerät Griffin aber erst, als der legendäre „Star Maker“ den Verlag übernimmt. Eine beinahe mythische Figur, alterslos, immer erfolgreich. Griffin wird von leichter Panik ergriffen. Was wird aus dem Verlag? Was aus seiner Karriere? Auch sein Privatleben gerät in immer heftigere Turbulenzen. Sein achtjähriger Sohn findet es schade, in einem intakten Elternhaus zu leben und setzt alles daran, wenigstens seiner Mutter einen Liebhaber zu besorgen. Mit Erfolg. Griffins Sexleben wird von etlichen verführerischen und scheinbar willigen Damen in Wallung gebracht, aber der Umworbene hält sein Zeugungsorgan für zu klein und die Damen sind, nun ja, ein wenig merkwürdig…

Wenigstens scheint es beruflich gut zu laufen. Griffin wird vom Star Maker protegiert (während er bei seinen Kollegen als „Antisemit“ mehr und mehr ins Abseits gerät), er könnte zufrieden sein. Wären da nicht die merkwürdigen Todesfälle, die dem Verlag sehr gelegen kommen… Und wäre da nicht der Star Maker selbst, der im wahrsten Sinne des Wortes das tut, was sein Name verspricht… Dass Griffin von diesem Geheimnissen erfährt, ist nicht gut für ihn.

The Story so far. Eine überdrehte, aberwitzige Satire auf eine ebenso überdrehte und aberwitzige Epoche. Und wie jede Satire erzählt „Cocksure“ zwei Geschichten: Die des durch eine aus den Fugen geratene Zeit taumelnden Mortimer Griffin und ihre auf Normaltemperatur heruntergekochte historische Version. Natürlich gab es im London des Jahres 1968 keine Lehrerinnen, die den Leistungswillen ihrer Schüler dadurch beförderten, dass sie den vier Klassenbesten „einen geblasen “ hätte (wohl aber genügte Anhänger einer freien Sexualität, die damit ihr Verklemmtsein kaschierten). Und ebenso natürlich ist der Star Maker nichts weiter als ein neuer Typus Geschäftsmann, der Freak in Nadelstreifen. Die Geschichte hat also zwei Gesichter in einem: das nüchterne Zeitbild aus Pixeln satirischer Überspitzung. So könnte man das nacherzählen und zugleich analysieren.

Ein Krimi? Nein. Allein dass Verbrechen geschehen, macht noch keinen Krimi, zumal von einer entsprechenden „Handlung“ mit all ihren genrespezifischen Mechanismen wird kaum zu reden sein können. Aber in „Cocksure“ erschöpft sich die Handlung eben nicht nur in der erzählten Geschichte. Bereits der Titel führt uns auf eine andere, überraschende Spur.

„Cocksure“ lässt sich mit „todsicher“, „endgültig“ übersetzen, doch mit wessen Englischkenntnissen es nicht weit her ist, der wird zunächst „schwanzsicher“ lesen – und genau das ist beabsichtigt (und schön und richtig, dass der Verlag den Titel nicht eingedeutscht hat). Tatsächlich beschäftigt sich Richlers Roman nur mit zwei Themen: mit Sex und Sterben (beziehungsweise der Angst vor beidem). Alles, jede Weltanschauung, jede Moral, jede gesellschaftliche Regel wird auf diese beiden Punkte reduziert. Ausgerechnet höchste Lust und höchste Gewissheit sind die maßgeblichen Irritationen des Lebens, die in der Figur des Star Makers ihre Pervertierung erfahren. Der Star Maker nämlich hat eine neue Form von Sex erfunden, die aber das genaue Gegenteil von Lust ist, um der Gewissheit des Todes ein Schnippchen zu schlagen…

Was wir so nach und nach ergründen, ist kein „Krimi“, weil keine Geschichte. Aber Richler benennt auf dieser Ebene seines Textes präzise jenen Nährboden, aus dem Verbrechen wächst – und die Faszination, die es als Verbrechen und Literatur ÜBER Verbrechen ausübt. Angst vor der Gewissheit, die sich im Schaudern vor dem Ungewissen eine Ausweichemotion verschafft, die Unmöglichkeit, klare Fronten zu benennen (denn Sex und Tod werden nicht nur durch die jeweilige Angst davor zusammengehalten, sie sind auch sonst untrennbar miteinander verbunden, das Schöpferische mit dem Destruktiven ebenso wie das Gute und das Böse), kurz: Die Destruktion von Lebenskonstanten als Voraussetzung von Lebenskontinuität, das Verbrechen als zugleich zerstörerische wie sinn- und ordnungstiftende Kraft.

Nach all diesen Ausführungen wird sich die Frage nach der Definition von Kriminalliteratur stellen. Definiere ich sie nach ihren „Geschichten“ oder nach ihrem Gehalt, also nach dem Erzählten oder der Theorie, die hinter diesem Erzählten steckt? Ich habe zu diesem Thema eine Aussage von Thomas Wörtche gefunden. Sie wurde einem längeren Artikel im „Krimijahrbuch 2008“ entnommen:

“ Es ist unglaublich schwierig, den Krimi bzw. den Kriminalroman gattungstheoretisch zu erfassen. Er lässt sich nur über Inhaltsparaphrase beschreiben und das reicht nicht aus für eine Gattungstheorie oder für eine Genretheorie.“

Wir haben im Vorhergegangenen zwei Methoden nicht nur des Erzählens kennengelernt, sondern auch zwei des Definierens / Kategorisierens. Die erste ist zielgerichtet, sie baut auf Nacherzählbarkeit resp. auf die Möglichkeit, überhaupt etwas eindeutig definieren zu können. Die zweite verwirft das Konzept der Nacherzählbarkeit resp. wandelt das, was man Begriffserklärung nennt, in das genaue Gegenteil um: die Begriffszertrümmerung. Indem wir mit den Werkzeugen dieser durchaus gattungs- / erzähltheorisch operierenden Methode vorgegangen sind, haben wir an den Beispielen Sallis und Richler zwei mögliche Anhaltspunkte zukünftiger „Definitionen“ von Kriminalliteratur erhalten: Kriminalliteratur, die gerade WEIL sie sich scheinbar an sämtliche Regeln des Genres hält, über dieses hinausweist (Sallis) und solche, die erst weil sie ihre Geschichte außerhalb des Genres erzählt, dessen Fundierung offenlegt (Richler). Genau das aber weist darauf hin, dass „das Genre“ nicht sui generis definiert / kategorisiert werden kann. Die Kriterien sind allgemeinliterarische, „Genre“ lediglich ein mit Hilfe inhaltlicher Paraphrasen gezimmertes Orientierungskonstrukt. Das heißt in letzter Konsequenz: Kriminalliteratur kann auf die gleichen Ressourcen und Mittel wie Nichtkriminalliteratur zugreifen.

Es sei betont, dass nichts dazu berechtigt, Kriminalliteratur, die auf dem Konzept der Nacherzählbarkeit, der stringenten und kontinuierlichen Geschichte basiert, in irgendeiner Form zu diskreditieren. WIE eine Geschichte erzählt wird, sagt nichts über ihre Qualität aus. OB eine Geschichte erzählt wird oder vom Leser erzählt werden will, aber auch nicht.

Mordecai Richler: Cocksure.
Liebeskind 2008. 255 Seiten. 19,80 €
(Original: Cooksure. 1968. Deutsch von Silvia Morawetz)

3 Gedanken zu „Die Woche der Erzähltheorie des Kriminalromans -3-“

  1. ja, lieber dpr, den Richler mag ich auch. Aber ‚Geschichte‘ und ‚Gehalt‘, damit kann ich mich nicht recht anfreunden (man kommt halt her, wo man herkommt …). Denken Sie an folgende (im übrigen sehr lesenswerte) Erzählung/Geschichte:

    Ein Arzt tötet auf deren Verlangen seine Frau, die an einem Krebs leidet, den der Arzt irrtümlich für unheilbar hält. Er erkennt seinen Irrtum zu spät, kann zwar einer anderen Frau helfen, doch das Gewissen plagt ihn so, daß er seine Praxis aufgibt und den Armen hilft. Nach dreißig Jahren stirbt er, mit sich und der Welt im reinen.

    Die erzählerische Präsentation (wie immer sie das nennen wollen, Discours z. B.) läuft ganz grob folgendermaßen:

    Ein Jurist erzählt am Ende seines Lebens und nach dem Tod des o. a. Arztes wie er diesen in der Mitte des Lebens getroffen und sich an die gemeinsame Schulzeit erinnert habe. Bei dieser Begegnung erzählt der Arzt wiederum seine Geschichte bis zu Mitte des Lebens und zu dem Mord, den er glaubt, begangen zu haben.

    In der Spannung zwischen der ‚Geschichte‘ und ihrer Diskursivierung entsteht die Welt des Textes — die Themen, die dabei zur Sprache kommen, können Sie meiner fahrlässigen Zusammenfassung ansatzweise entnehmen (die Erzählung finden Sie hier.

    Also müßte man den ‚Gehalt‘ wohl noch einmal aufspalten — wie immer Sie das nennen wollen: in die An- und Zuordnung der ‚Realitäten‘ (alles, was der Text ’sagt‘) einerseits, und andererseits in diese ‚Realitäten‘ selbst.

    Beste Grüße!

  2. Ihr Einwand ist berechtigt, lieber JL. Letztlich habe ich mich für Gehalt als „Sinnganzes“ entschieden, um es der „Geschichte“ als „Sinnkonstrukt“ gegenüber zu stellen (eine geordnete Teilmenge von Gehalt). Aber das müsste, wie gesagt, noch differenziert werden.

    bye
    dpr

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