Vielleicht ist das eine schnöde ökonomische Überlegung: Ich möchte einen „Gesellschaftsroman“ schreiben, weiß aber aus Erfahrung, dass sich so etwas nicht gut verkaufen lässt. Also verpacke ich das Ganze in einer Krimihandlung – und es verkauft sich prächtig. Laura Lippman, deren „Das dritte Mädchen“ zu solchen Spekulationen Anlass geben könnte, ist hingegen eine bewährte Schöpferin von Spannungsliteratur und somit eigentlich über diese Zweifel erhaben. Dennoch: Ein wenig missbraucht sie das Genre schon. Schlimm ist das nicht.
Auf der Mädchentoilette einer Kleinstadtschule nahe Baltimore vollzieht sich eine Tragödie. Drei Freundinnen treffen sich dort konspirativ, kurz darauf ist eine erschossen, eine andere – offenbar die Schützin – liegt hoffnungslos im Koma und das titelgebende dritte Mädchen bleibt leicht verletzt zurück. Die Polizei taucht auf und beginnt zu ermitteln, obwohl der Fall klar zu sein scheint.
Dass er nicht klar ist – wir wissen das. Ein Geheimnis gilt es zu lüften, ein vielleicht schreckliches Geheimnis, jedenfalls schrecklich genug für eine Bluttat. Wir müssen mehr erfahren über diese drei Mädchen und ihr Milieu, und Laura Lippman tut uns den Gefallen.
Aber wie! Auf den nächsten gut 350 Seiten zeichnet sie das Psychogramm der amerikanischen Mittelschicht mit ihren Obsessionen und Ängsten, sie führt uns durch die verwirrten Gedanken von Mädchen, die unbedingt auf „ihre richtige Uni“ müssen – kurz: So geht es wohl zu, in Abstufungen auch bei uns, immer dort, wo die Wohn- und Finanzverhältnisse über dem Durchschnitt liegen, aber die realen Anforderungen ebenfalls, von den eingebildeten ganz zu schweigen.
Der Fall selbst gerät beinahe in Vergessenheit, das Ganze wird seltsam „entkriminalisiert“, jedenfalls kann von einem „Spannungsbogen“ die Rede nicht sein. Den zu bauen, wäre u.a. das Ermittlerteam zuständig, das aber bewegt sich unwirklich distanziert durch die Ereignisse, sichert Beweismittel nur zögerlich, verzichtet auf intensive Verhöre etc. Dass wir dennoch bei der Stange bleiben, liegt nicht allein daran, dass Lippman die Geschichte dieser Mädchen, ihrer Eltern und Lehrer sehr lesenswert und spannend erzählt. Die andere, die Krimispannung, ist natürlich stets präsent, jener legendäre Suspense, dieser Verdacht, alles ende in einem unerhörten Twist, einer ungeheuerlichen Inszenierung wie etwa bei den jüngst erschienenen Romanen „Sniper“ von Lee Child oder „Die Menschenleserin“ von Jeffery Deaver.
Fehlanzeige. Dass „alles anders“ war, nun, es stellt sich am Ende heraus. Spektakulär ist das aber nicht. Muss es das? – Ich gebe zu, dass mich das von Lippman sorgfältig bearbeitete Thema nicht sonderlich interessiert, ich es aber durchaus mit Gewinn gelesen habe. Dass ich dabei Opfer einer wohlinszenierten Verführung geworden bin, von den Pawlowschen Instinkten des Krimilesers auf die genreüblichen Umlaufbahnen geschickt und jenem verfluchten Suspense düpiert – das nehme ich der Autorin nicht übel. Vielleicht musste das Ende auch so, nun ja, läppisch sein, doch wenn ich bei Beginn der Lektüre gewusst hätte, was mich erwartet, ich hätte das Buch trotzdem gelesen. Ein „Psychothriller“, wie auf dem Cover vermerkt, ist es aber nicht. Oder ein gänzlich unspektakulärer, was vielleicht ein größerer Reiz sein kann.
Laura Lippman: Das dritte Mädchen.
Rütten & Loening 2008 (To the Power of Three, 2005, deutsch von Ursula Walther).
394 Seiten. 16,95 €