Der Krimi der Zukunft ist eine Datei auf einem USB-Stick. Dessen Besitzer – nennen wir ihn Gustav – hat sich vorige Woche, wie stets, wenn ihn das Leben furchtbar anödet, in „Kerstin’s geiles Krimiforum“ eingeloggt und ist dort die Rezensionen seiner Kumpels durchgegangen, die nur deshalb seine Kumpels sind, weil sie Gustavs Geschmack „aber voll und ganz, ey“ teilen.
„Blutmonster129“ schreibt über den Krimi X: „Die Daddei ist hammer! Es hantelt vum die Personen welsche einem Kindsmörder aufzuklären habm.“ Jetzt begibt sich Gustav zu seinem bevorzugten Internetbuchhändler, der davon lebt, Kochbücher zu verkaufen, weil sich dort die digitale Form seltsamerweise nicht durchgesetzt hat. Gegen eine kleine Gebühr können Verwandte und Freunde eines Autors von Digitalkrimis Rezensionen einstellen, und durch die klickt sich Gustav. Alles klingt sehr interessant und vielversprechend, wie immer. Gustav trifft eine Entscheidung.
Der Rest ist ein Kinderspiel. Ab zu „Walli’s Tauschportal“. Einfach eine Datei aus dem eigenen Bestand hochladen und das Buch X runter. Früher, als es noch Verlage gab, kostete das Geld und die Dateien waren kopiergeschützt. Nachdem sich die Hackerszene über diesen Kopierschutz halb tot gelacht hatte, gab es die Verlage plötzlich nicht mehr und die Autoren begannen resigniert, Walli (der im Brotberuf Kinderkrankenpfleger ist und sich auf Kindermörderkrimis spezialisiert hat) ihre Ergüsse unaufgefordert zuzumailen.
Die Autoren leben längst nicht mehr von Tantiemen. Sie leben von Lesungen, nein, das heißt seit ein paar Jahren „Events“. Ein bisschen Musik, ein kärgliches kaltes Büffet, schlechter Rotwein, ein paar Videos im Hintergrund, während der Autor mit scheppernder Stimme liest. Beherrscher ihres Metiers – und der Autor von Krimi X gehört dazu – verwöhnen ihr zahlendes Publikum zudem mit Szenen aus dem wirklichen Leben. Einem hübschen, blondgelockten Jungen von 11 Jahren etwa, der auf einem Stuhl hockt und immer dann, wenn im Buch ein hübscher, blondgelockter Junge von 11 Jahren missbraucht, gequält, zerstückelt wird, ganz große panische Augen macht und zu heulen anfängt. Das macht betroffen! In echt! Die Events dauern 2x 45 Minuten wie ein normales Fußballspiel, in der Halbzeitpause macht die einheimische Wirtschaft Werbung, und davon lebt der Autor. Die Veranstaltungen finden bevorzugt in Dorfgemeinschaftshäusern statt.
Gustav hat also nun die Datei des Krimis X auf seinem E-Book-Reader und tut das, was man leider tun muss: lesen. Und es gefällt ihm gut! Wäre das nicht etwas für… Mensch! Hat seine Freundin Silke Sonnenschein nicht bald Geburtstag? Silke, bei der mit den üblichen Blumen und Pralinen keine Schnitte… Gedacht, getan. Ein individuelles und originelles Geschenk – ein Buch aus Papier!
Die Datei wird in den Bearbeitungsmodus geschaltet – und Gustav geht ans Bearbeiten. Zunächst tauscht er den Namen der Heldin – sie heißt Vera Koslowski – gegen „Silke Sonnenschein“ aus. Ha, die wird Augen machen! Hm – Silke ist nicht so der romantische Typ, also raus mit diesen langweiligen Landschaftsbeschreibungen. Und was heißt „Ihre Sinne taumelten, als Björns rechte Hand traumversonnen über den Stoff ihrer Jeans strich“? Hallo, Herr Autor? Geht’s noch? Daraus wird von Gustavs eigener Hand „Silke Sonnenschein bekam einen Abgang, als Gustavs geschwollener Hosenstall gegen ihre Jeans crashte“. So, jetzt noch das philosophische Geschwafel raus und gut is.
Gustav überspielt die geänderte Datei des Krimis X auf seinen USB-Stick und geht damit zu einer sogenannten Print Station (sprich: Preint Steschön) seines Lieblingsdiscounters. Seit es auch keine Buchhandlungen mehr gibt, liegt hier die letzte tröstliche Insel der Bibliophilen, in Gestalt eines metallisch glänzenden Apparates von der Größe dreier Fahrkartenautomaten. Gustav steckt seinen USB-Stick in den USB-Eingang. Auf dem Display wählt er aus: Format, Papierqualität, Bindung, Stückzahl. Titelbild? Es gibt vierzehn angebotene Muster, Gustav wählt Muster 3: Die von einem Ganoven bedrängte, leichtbekleidete, panisch schauende Frau auf dem Bett. Okay klicken. Auf dem USB-Stick wird nun nach jener Bilddatei gesucht, die Gustav wohlweislich mit PhotoShop erstellt hat. Silke vor einem Jahr im Mallorca-Urlaub, als Gustav mit dem Wassereimer auf sie zu kam. Schau nur, wie entgeistert sie guckt. Frontal! Voll die Panik! Und boah, wie die geschrieen hat, als sie nass wurde! Schnell hat Gustav den Kopf Silkes freigestellt, und dieser Kopf wird nun von der Print Station perfekt auf die Mustervorlage montiert. Voila: Silke mit dicken Möpsen und prallen Schenkeln auf einem Bett, wie sie dem Übeltäter entgegenpanikt.
Fertig. Zehn Euro einwerfen und „printen“ drücken. Die Maschine printet. Das alles dauert höchstens fünf Minuten, und nachdem die vergangen sind, wird aus dem Bauch der Maschine das Exemplar des Krimis X, bearbeitet von Leser Gustav, in den Entnahmeschacht gepfeffert. Sieht gut aus!
Und wie sich Silke freut! „Ey, wassn das, du?“ „Ein Buch“, kann Gustav stolz mitteilen. „Das ist jetzt der neueste Clou. Digitales wird zu Papier, der letzte IT-Schrei. Cool, was?“
Silke drückt Gustav einen dicken Kuss auf die Wange. „Mensch, mein erstes Buch! Und bin ich das auf dem Cover? Du, du!“
Der Abend wird dann noch wunderschön. Nachdem alle anderen Gäste (die natürlich nur Blumen und Pralinen dabeihatten und ziemlich angesäuert auf Georgs originelles Präsent linsten) gegangen sind, machen es sich Silke und Gustav auf der Couch gemütlich, und Gustav zeigt Silke, dass die Heldin des Buches genauso heißt wie sie: Silke Sonnenschein.
„Gustav!“, jauchzt Silke, „Du bist so originell!“
Gustav grinst. Das Leben ist momentan überhaupt nicht öde. Und, nein, er wird heute abend keinen Krimi lesen…
„Georgs originelles Präsent“? Booah, ey! Rezessent? Geht’s noch? Gustav, Alder, Gustav!