Schön, wenn ein Kriminalroman einen Anhang hat. Der von „Kuhls Kosmos“ ist reichhaltig, eine Liste der im Besitz des am 31.12.1979 ermordeten Rio Bravo vorgefundenen Schallplatten, sämtlich Produkte dessen, was man zur damaligen Zeit „Diskowelle“ nannte. Zusammengestellt hat die Liste der mit der Aufklärung des Falles beauftragte Frankfurter Kriminalkommissar Jörg Herbricht, kurz bevor er die Akten schließt. Der Fall nämlich ist „an Komplexität kaum zu überbieten“, die Auflistung der Schallplatten ein letzter verzweifelter Versuch, die Zeichen zu lesen. Gibt es da nicht Satanismen? Was bedeutet es, dass Giorgio Moroder der Neffe von Louis Trenker ist? Was hat die Hochfinanz mit der Sache zu tun? Aberwitzige Dechiffrieransätze.
Die Geschichte ist auf den ersten Blick recht simpel. Kuhl, Rio und andere Jugendliche leben in „Kamerun“, einem Frankfurter Stadtteil, von dem anzunehmen ist, er beherberge nicht die Gewinner des Finanzcrashs. Jungs ohne Zukunft halt, Kleinkriminelle, die mit GIs Waffengeschäfte machen, wohl auch mit Drogen dealen und mit verblüffender Kreativität Verdienstmöglichkeiten suchen. Kuhl z.B. hat eine Idee. Man müsste die Wohnung eines Rentners beobachten. Eines Rentners, der jeden Monat sein Geld von der Bank abhebt. Irgendwann wird der Rentner sterben, das haben die so an sich, und es merkt ja auch keiner hier. Man wartet also, bis der Rentner tot ist (sieht man, wenn abends kein Licht brennt), dann geht man rein in die Wohnung und greift sich die Knete. Eine wundervolle Idee des Autors übrigens, leider geht die Rechnung des Ausführenden nicht auf. Oder man versucht, aus einem Supermarkt ein paar Flaschen Schnaps zu schmuggeln. Ohne zu bezahlen. Hätte beinahe geklappt. Leider finden sich Kuhl und Rio unvermittelt in einer atemberaubenden Jagd durch das Kaufhaus wieder, gehetzt von blutrünstigem Wachpersonal.
Das ist das eine Leben der Kameruner Jungs. Dann endet es abrupt. Kuhl verschafft sich eine große Geldsumme; leider lassen dabei die Vorbesitzer ihr Leben. Er setzt sich ab auf die Bahamas, führt ein Leben in Müßiggang, lernt Filmemacher und andere Dubiositäten kennen, die mit ihm Geschäfte machen wollen, ein etwas gealterter Pornostar kreuzt seinen Weg – doch Kuhl denkt nur an den nahen 31.12.79, Ende des Jahrzehnts, das auch das Ende Kuhls werden soll. Er will sich einen standesgemäßen Abgang verschaffen: Geschlechtsverkehr und beim Höhepunkt: Kugel in den Kopf. Es kommt wieder ein wenig anders.
Am 31.12.79 stirbt Rio, ermordet. Kuhl wird davon nichts erfahren. Zu sehr ist er mit seinem eigenen Ableben beschäftigt, er reflektiert seine Vita, bisweilen ein wenig zu vertrackt für einen einfachen Jungen aus den schlechteren Vierteln von Frankfurt, er weiß, dass an Sylvester 1979 nicht nur das Jahrzehnt seinen Geist aufgibt, sondern auch alles, was er damit verbunden hat.
Man könnte den Text tatsächlich so lesen. Dann läse man einen teilweise sehr witzigen, teilweise auch gewollt mit den Klischees des Pulp posierenden Roman. Man kann ihn aber auch anders lesen. Als den Roman eines Jungen, der niemals aus „Kamerun“ herauskommt, seine Diskoplatten hört und sich in die Illusion einer anderen Welt, in seine utopischen Bahamas hineindenkt. Das nennt man „längeres Gedankenspiel“. Dann wird „Kuhls Kosmos“ wirklich zu Kuhls Kosmos, zu den Tagträumereien eines qua Herkunft Gescheiterten, in einer Welt aus Dreck, der sich im Diskorhythmus zu Gold verwandelt, aber die Welt hört trotzdem nicht auf, aus Dreck zu bestehen.
Für mich ergibt diese Lesart mehr Sinn. Sie macht aus einer hübschen chronologisch erzählten Geschichte eine beklemmend vertrackte, in der sich die Wirklichkeit nicht einmal mehr in Gedanken überwinden lässt. Ein lohnendes Buch mit vielen gelungenen Schnappschüssen allemal.
Thor Kunkel: Kuhls Kosmos.
Pulp Master 2008. 333 Seiten. 13,80 €
Längeres Gedankenspiel? Schnappschüsse? Wohl zu viel Arno Schmidt gelesen?