Ein Grundriß der Geschichte der frühen deutschen Kriminalliteratur

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Als mich der Verleger Peter Faecke bat, ich möge doch für die →Edition Köln zehn „alte Krimis“ auswählen und herausgeberisch betreuen, habe ich – nach spontaner Zusage – für einen Moment mein voreiliges Ja bereut. Nicht weil ich dem Projekt generell mißtraut hätte – ganz im Gegenteil. Eine „Criminalbibliothek 1850 – 1933“ ist nach Lage der Dinge bitter notwendiges Desiderat. Ich zweifelte auch keine Sekunde an der Qualität der Titel, die in einer solchen Bibliothek ihren Platz finden würden. Gutes, zu Unrecht Vergessenes gibt es genug. Nur: Welche Texte sollten es sein? „Die besten“? Das ist ein großes Wort und ein unseriöses obendrein, denn es ignoriert, dass die Bedeutung von Literatur immer aus verschiedenen Blickwinkeln fixiert werden sollte. Die „wegweisendsten Krimis“? Nun, die gibt es nicht. Zu einer bewusst wahrgenommenen Tradition hat es bei der deutschen Kriminalliteratur nämlich nie gereicht, mithin führt kein erkennbarer, ausgekundschafteter Weg aus der Vergangenheit in die Gegenwart.

Das aber war endlich der Schlüssel: Es müsste gelingen, eine fiktive, weil rekonstruierte Tradition der deutschen Kriminalliteratur für den Zeitraum 1850 bis 1933 nachzuzeichnen, einen Grundriss aufzumalen, in dessen Grenzen sich dereinst eine „Geschichte der frühen deutschen Kriminalliteratur“ würde bewegen können. Zehn Titel also – und zehn Nachworte, die versuchen, die vorgestellten Texte in ihrem literarischen, gesellschaftlichen und politischen Kontext zu verankern.

Die Reise beginnt mit Emilie Heinrichs‘ „Leibrenten“ (1866), ein „Roman aus der Gegenwart“ wird er im Untertitel genannt, nicht KRIMINAL-Roman, denn das ist er selbst für seine Zeit kaum gewesen. Sondern das beste Belegstück dafür, warum sich in jenen Jahren Kriminalliteratur entwickeln MUSSTE. Die Vorgeschichte eines Genres also, voller Lug und Trug und Intrige und – am Ende – auch Mord. Eine Zeit im Übergang, die ohne falschen Optimismus, pessimistisch und nüchtern analysiert wird. Hier, so denke ich, liegen die eigentlichen Wurzeln von „Krimi“.

Der zweite Titel fällt aus der Reihe – glaubt man. Benno Bronners „Herr von Syllabus“ (1873) ist nämlich nicht die im Untertitel versprochene „Criminalnovelle“. Es ist – die meines Wissens historisch erste – Parodie auf „Krimi“. Doch hinter dem vordergründigen Jux steckt sehr viel Ernst. Der Kriminalroman als subversives Element, als Kumpan einer entmenschlichten, moral- und gottlosen Zeit der Industrialisierung. Ja, und dann wird „Herr von Syllabus“ doch noch zum Krimi. Denn wer war Benno Bronner (ein Pseudonym…) und wer dieser geheimnisvolle Herr von Syllabus?

Mit drei Erzählungen von Jodocus Donatus Hubertus Temme werden erstmals „richtige Krimis“ in die Bibliothek eingestellt. Und zwar vom „Vater der deutschen Kriminalliteratur“, einem Mann mit bewegtem Lebenslauf (Richter, Protagonist der 48er Revolution, im Schweizer Exil lebend), zwischen 1850 und 1880 nicht nur der wohl erfolgreichste seines Gewerbes, nein, auch der stilistisch und thematisch prägendste. Bei ihm findet sich alles, was auch heute noch einen guten Krimi ausmachen sollte: blendende Stilistik, ausgeklügelte Dramaturgie, die spannende Mischung aus Unterhaltung und Aufklärung. Eine der drei vorgestellten Erzählungen ist dabei nebenbei auch noch der „erste noir“ der Kriminalgeschichte…

Einen politischen Hintergrund hatte auch Adolf Streckfuß, dessen Novelle „Der tolle Hans“ (1872) folgt. Zunächst wie Temme in die Ereignisse von 1848 involviert, kaltgestellt, später wieder politisch aktiv, Autor einer vielgelesenen Chronik der Stadt Berlin, von dieser in einem „Ehrengrab“ beigesetzt. Streckfuß steht für die immer deutlichere Hinwendung zur detektorischen Kriminalliteratur im Unterhaltungsgewand, das Kritik an Institutionen elegant verschleiert, ohne sie dem Leser gänzlich zu verhüllen. Das „Genre“ beginnt sich zu festigen, seine spezifischen Möglichkeiten und Werkzeuge werden allmählich serialisiert.

„Das wandernde Licht“ von Ernst von Wildenbruch (1893) ist ein Vorläufer psychologisch fundierter Kriminalliteratur. Das schmale Bändchen kommt dabei völlig ohne den heutigen Psychopathenkrawall aus. Es klärt die Frage, was und wer denn nun verrückt sei, auf sehr überzeugende Art, ein Plädoyer für den nüchternen Blick auf die Dinge, eine Absage an das scheinbar Offenkundige, das schnelle Urteil.

Die Jahre nach 1890 bilden eine Zäsur in der Geschichte der deutschen Kriminalliteratur. Sie wird sich fortan von der Sherlock-Holmes-Manie anstecken lassen und dem niemals irrenden, starkgebärdigen Serienhelden huldigen. Auch von Robert Kohlrausch gibt es ein solches Stück à la Holmes („In der Dunkelkammer“), es ist jedoch spritzig-witzige Parodie. Für die „Criminalbibliothek“ ausgewählt wurde sein Roman „Saffi“ aus dem Jahr 1906. Sehr düster, sehr verwickelt, sehr eigenständig, etwas, an das man hätte anknüpfen können.

Doch der Einfluss des Seriendetektivs auf die deutschsprachige Kriminalliteratur bleibt unstrittig. Eine der ersten Figuren – vielleicht gar die erste? – war „Detektiv Müller“ der österreichischen Autorin Auguste Groner. In „Der rote Merkur“ (1910) begleiten wir den bereits älteren Müller bei der Aufklärung eines mysteriösen Mordfalls. Ein früher „Whodunit“ mit tiefen Einblicken in das tägliche Leben der kleinen und etwas größeren Leute, eine für seine Zeit typische Verbindung von Liebes- und Verbrechensmelodram.

„Die geschlossene Kette“ von Erich Wulffen (1919) hat gänzlich andere Intentionen. In diesem Roman des Juristen und Kriminalpsychologen geht um nichts weniger als die Vision einer objektiven Rechtsprechung durch die Mittel technischen Fortschritts, der das Verbrechen durchschaut und letztlich, weil es ihm nichts mehr entgegenzusetzen hat, endgültig besiegt. Das klingt naiv-optimistisch, ist es aber nicht. Denn am Ende kommt alles ganz anders…

Nichts Visionäres findet sich in Otto Schwerins „Venus Vulgivaga (Der letzte Schuß)“ von 1923. Es ist ein typischer Polizeiroman, wie wir ihn in den Roaring Twenties häufig finden, Verbrechensaufklärung ist Teamarbeit, am Ende siegt die Gerechtigkeit. Ein Beispiel für den soliden, gut formulierten Krimi seiner Zeit.

Der letzte Band der „Criminalbibliothek“ weist darauf hin, wie stark die Kriminalliteratur vom neuen Medium Film beeinflusst wurde. Nicht nur, dass überraschend viele Autoren jener Jahre zwischen 1918 und 1933 aus dem aufblühenden Geschäft mit den bunten Bildern kamen, dort als Regisseure oder Schauspieler tätig waren. Nein, der Einfluss reicht bis in die Dramaturgie, den Stil. Artur Landsbergers „Justizmord?“ von 1928 besteht fast gänzlich aus Dialogen, wie man sie aus den spritzigen Komödien jener Jahre kennt. Und ventiliert doch eine ernste Problematik, die sich seit ihren Anfängen durch die deutsche Kriminalliteratur zieht: Was ist eigentlich „Wahrheit“ im rechtlichen Sinne?

Zehn Bände, zehn Schritte, ein – neben anderen – möglicher Weg durch die ungeordnete Welt der deutschsprachigen Kriminalliteratur. Die „Criminalbibliothek 1850 – 1933“ zeigt auf, welche gesellschaftlichen, politischen und technischen Einflüsse auf das Genre einwirkten, wie es sich dramaturgisch festigte, thematisch verzweigte, wie es serialisiert, trivialisiert wurde und doch immer auf die Zeit reagierte, in der es entstand. Diese Tradition zu rekonstruieren, wird sich der Herausgeber in seinen Nachworten bemühen. Die von ihm dafür als Belegstücke vorgelegten Texte bleiben aber darüber hinaus das, was sie immer schon waren: gute Kriminalliteratur.

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