Julian Barnes: Arthur & George

Einmal in seinem Leben hat Arthur Conan Doyle selbst Sherlock Holmes gespielt. Der Anwalt George Edalji, Sohn eines aus Indien stammenden, in der englischen Provinz für das Seelenheil verantwortlichen Pfarrers, war wegen Tierquälerei und anderer Delikte (u.a. soll er Drohbriefe an sich selbst geschrieben haben) zu einer mehrjährigen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Wirkliche Beweise gab es nicht, dafür eine Menge Manipulation, Dummheit und Rassismus. Ein Skandal also, und Arthur macht sich daran, George Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.

Wohl gelingt es Doyle, mit Hilfe seiner publizistischen Machtstellung als gefeierter Autor, Edalji zur Freiheit zu verhelfen. Einem Holmes hätte der Fall dennoch keine Ehre gemacht. Weder wird der wirkliche Täter ermittelt, noch erfolgt die „Rehabilitation“ wegen erwiesener Unschuld.

Eine authentische Begebenheit, ein Kriminalfall. Wie ein Krimi aufgebaut ist Barnes‘ Buch indes nicht. Es zerfällt in vier Teile. Zunächst werden wir mit Jugend und Entwicklung der beiden Titelfiguren bekanntgemacht. Jede geht ihren vorbestimmten Weg, Doyle etabliert sich, wird erfolgreicher Autor, heiratet, wird Vater etc. Edalji hingegen ist ein Außenseiter. Er studiert, lässt sich als Anwalt nieder, schreibt ein Buch über Eisenbahnrecht, lebt noch zu Hause.

Im zweiten Teil geraten diese wohlgeordneten Verhältnisse ins Wanken. Edalji wird mit haarsträubenden Argumenten eines Verbrechens überführt, das er gar nicht begangen haben kann. Conan Doyle verliebt sich in eine Jüngere, derweil seine Ehefrau schwer erkrankt und die letzten Jahre ihres Lebens bettlägerig bleibt. In diesem zentralen Teil des Textes gelingt es Barnes, beide Personen, die sich noch gar nicht kennen, einander näher zu bringen. Sowohl Arthur als auch George verlieren trotz der jeweiligen existentiellen Krise niemals die Contenance. Sie finden sich mit ihren Schicksalen mehr oder weniger ab, treffen Arrangements und warten darauf, dass ihnen der natürliche Lauf der Dinge die Entscheidung abnimmt.

Im dritten Teil erleben wir Conan Doyle endlich bei seiner detektivischen Arbeit, die er zwar ganz im Stile seines Helden auszuführen gedenkt, doch ohne dessen Erfolgsgarantie. Nicht Fakten helfen dem Recht auf die Sprünge, lediglich politisches Kalkül korrigiert ein Fehlurteil. Arthur weiß, was dahintersteckt: Rassismus. George hingegen leugnet dies überraschenderweise. Mag er auch seinen Glauben verlieren, seine Hoffnung auf Gerechtigkeit bleibt ihm.

Der vierte Teil beschreibt, wie sich George und Arthur wieder entfernen. Conan Doyle, nach dem Tod der Ehefrau endlich „frei“ für seine große Liebe, bleibt der erfolgreiche Autor, der sogar seinen ungeliebten Meisterdetektiv wieder zum Leben erweckt. Immer mehr widmet er sich dem Okkulten, veranstaltet Séancen, spricht mit den Toten. George hingegen nimmt, als wäre nichts geschehen, seine Arbeit wieder auf, zieht nach London, bleibt Junggeselle, dem die ebenfalls unverheiratete Schwester den Haushalt führt.

Es ist diese Mischung aus Selbstbeherrschung (die nicht selten Selbstverleugnung ist), Normalität und der geradezu haarsträubend inszenierten Ungerechtigkeit, die die Qualitäten des Buches ausmacht. Alles ist schlüssig, unaufgeregt und nicht ohne Witz erzählt (einem durchaus zynischen Witz), kein „Thriller“, aber Kriminalliteratur, die Zusammenhänge klarmacht, über die sich übliche Genreprodukte ausschweigen. Auch so ein Buch, das sich einem erst in der Rekapitulation in seiner ganzen Tiefe öffnet. Sind ja nicht die schlechtesten Bücher.

Julian Barnes: Arthur & George 
(Arthur & George, 2005, deutsch von Gertraude Krueger).
Btb 2008. 525 Seiten. 10 €

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