Ein völlig abseitiger Exkurs über das Lesen

Jeder vierte Deutsche, so haben wir jüngst erfahren, liest keine Bücher. Das ist schlecht. Drei von vier Deutschen lesen also Bücher, und das ist gut. Für die Buchindustrie. Auch für die Leser? Lesen, das wissen wir, ist eine erlernbare Kulturtechnik, unentbehrlich für den Alltag, unentbehrlich auch für die Beurteilung dessen, was da gelesen wird. Was oder wieviel einer liest, spielt dabei zunächst keine Rolle. Mancher Konsument von Bildzeitungen mag seine Lektüre intellektuell ergiebiger verarbeiten als manch manischer Verschlinger von Höchstliteratur die seine. Das WIE ist entscheidend.

Wer ein Studium der Literaturwissenschaft erfolgreich abgeschlossen hat (sagen wir: mit einem M.A.), versteht etwas von Literatur. Ach ja? Ich erspare mir die Wiedergabe von Schwänken aus meiner eigenen Studienzeit und halte mich an die prosaischen Fakten: Wer ein Literaturstudium abgeschlossen hat, konnte unter Beweis stellen, gewisse technische Fertigkeiten beim Umgang mit Literatur einigermaßen zu beherrschen. Mehr nicht, aber das ist schon eine ganze Menge. Weder die Befähigung zu genauem und produktivem Lesen noch gar die zu ebensolchem Schreiben musste unter Beweis gestellt werden, wie auch. Das steht gar nicht auf den Lehrplänen.*

Das ist tröstlich für alle, die nicht Literaturwissenschaft studiert oder in ihrem Leben Stücker 2.000 Kriminalromane gelesen haben. Denn auch sie besitzen möglicherweise die Begabung, einen literarischen Text zu analysieren. Nehmen wir, →aus gegebenem Anlass, ein kleines Beispiel.

Norbert Horst erzählt in seinem aktuellen Roman „Sterbezeit“ diverse Geschichten (wir wollen sie nicht „Plots“ nennen, denn ein Plot ist etwas anderes als eine Geschichte). Der gesamte Text ist ein typischer Horst-Text, etwas also, das man als „authentisch“ bezeichnet (und wir verkneifen uns dazu auch jede Bemerkung). Für alle, die es nicht wissen: Norbert Horst ist Polizeibeamter und befleißigt sich einer von den Reflexionen seines Ich-Erzählers (der selten oder nie „ich“ sagt) geformten Erzählweise. Schön. Und mal ganz im Vertrauen: Wäre das alles, was Norbert Horst zu bieten hätte, es wäre einem spätestens beim dritten Roman schon zu wenig. Dass es das nicht ist, liegt nun an den Geschichten, die Horst erzählt – oder, besser: an der GESCHICHTE, die aus diesen Geschichten besteht.

Man kann „Sterbezeit“ in seine Handlungsteile zerlegen. Das ist nicht schwer und sogar von Menschen ohne Magistertitel zu erledigen. Es werden, wie gesagt, verschiedene Handlungsstränge entwickelt und mehr oder weniger ausführlich durch den Text gezogen. Ein Junkie wird tot aufgefunden, eine alte Frau stirbt, man entdeckt Leichenteile, der Protagonist hat Beziehungsprobleme und außerdem eine Nichte, die ein Problem mit ihrer Tochter hat.

Jetzt halten wir für einen Moment inne, etwas, das man beim Lesen grundsätzlich tun sollte. Einfach mal überlegen, ob nun Literaturwissenschaftler oder Kritiker oder nicht oder Vielleser oder Nur- oder Auchkrimileser. Worum geht es in diesen Geschichten? Bei allen, bis auf eine, springt es einem fast ins Auge: Es geht um Liebe. Um Elternliebe, um die Liebe zu Frauen und Männern. Liebe in einigen ihrer teilweise abgründigen Varianten. Man könnte es das Leitmotiv von „Sterbezeit“ nennen, und der Witz liegt nun darin, dass ein denkender Leser (ich verzichte hier auf die weibliche Form, denn „denkende Leserin“ wäre tautologisch) sogleich mutmaßt: Aha. Wenn es in diesen Geschichten um Liebe geht, dann wahrscheinlich auch in der Geschichte, die als Hauptstrang in dieser Hinsicht noch nicht gedeutet werden kann. Und tatsächlich: Es geht auch hier um Liebe. Ganz einfach. Um eine, die man absonderlich, merkwürdig, unglaublich nennen könnte, wie auch immer. Und wer als Leser darauf gekommen ist, bekommt eine Belohnung. Eine weitere Geschichte nämlich, in der es ebenfalls um Liebe geht, die jedoch vom Autor nicht erzählt wird, sondern nur im Kopf des Lesers erzählt werden kann. DAS macht „Sterbezeit“ neben allen anderen Qualitäten zu einem bemerkenswert gelungenen, weil durchstrukturierten Text, bei dem das passiert ist, was ja in der Literatur nicht immer passiert: Der Autor hat sich etwas dabei gedacht.

Das Besondere daran: „Sterbezeit“ funktioniert nicht ohne den Leser respektive seine Befähigung zur kreativen, konstruktiven, analytischen Lektüre. Selbst wer noch niemals einen Krimi gelesen hat, kann – muss nicht – dieses Leitmotivische herausarbeiten, ja, vielleicht gerade solche Leser, die von der Lektüre nicht das erwarten, was man die sorgsame Scheidung in „Gut“ und „Böse“ nennt. Verloren sind all jene, die Bücher bevorzugen, in denen erklärt wird, wie man einen „verdammt guten Krimi“ schreibt. Sie werden nicht nur garantiert keinen verdammt guten Krimi schreiben, sie werden auch nicht erkennen, wenn ein anderer einen verdammt guten Krimi geschrieben hat.

Ich weiß, das ist wieder mal ein völlig abseitiges Thema, mit dem sich, wer Krimis liest, besser nicht beschäftigten sollte. Ein Thema, das den auf ewig Pubertierenden ebenso wenig interessiert wie den frustrierten Gelegenheitsblogger. Vergessen wir es also sofort wieder.

*Ich muss zugeben, ein sehr gestörtes Verhältnis zu den Literaturwissenschaften zu haben. Nicht nur, aber auch wegen eines →solchen Faktums: „Ich suche jemanden, der Wörtches Das Mörderische neben dem Leben für IASL online / Kriminalität und Medien bespricht. Meine diesbezüglichen Anfragen in der weiten Welt der Kriminalliteraturwissenschaften sind auf Desinteresse gestoßen.“ Es verwundert mich nicht, dass die Erzeugnisse dieser weiten Welt der Kriminalliteraturwissenschaften bei mir inzwischen auf ziemliches Desinteresse stoßen.

dpr,
der sich, weil er heute zwei Beiträge verfasst hat, morgen ein Päuschen gönnt

Ein Gedanke zu „Ein völlig abseitiger Exkurs über das Lesen“

  1. schönen Dank für den Link! Das könnte, angesichts Ihrer Reichweite, helfen (und ich bin ein, wenn schon ahnungsloser, so doch belehrungsfähiger Redaktor).

    Beste Grüße!

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