Vor vielen Jahren quälte uns ein Opernsänger namens Hoffmann mit seinen Versionen bekannter Klassiker der Rockmusik. Es war so fürchterlich wie erfolgreich, eine Nobilitierung des „U-Genres“, Balsam für die Seelen der Freunde harmloser Tonfolgen, die endlich, endlich der Kunst teilhaftig wurden.
Alle paar Jahre werden wir Zeugen einer besonders ekligen Form von Leichenschändung. Immer dann, wenn Schauspieler „ihre“ Jacques-Brel-Platte aufnehmen und diesen wunderbaren belgischen Chansonnier auf widerwärtigste Art zerstückeln. Man sieht die durch sämtliche Leidenschaften des Lebens grimassierenden Fressen vor sich, wie sie bei den Proben in ihr Wie-ich-wie-Jacques-Brel-singe-Drehbuch starren.
Bob Dylan kann nicht singen. Die Sex Pistols beherrschten nie mehr als drei Akkorde. Weltmusik? Das sind ein paar trommelnde Neger und Pferdegeige zupfende Mongolen mit Oberton-Kakophonie. Das ist Volks-Musik. Das ist Unterhaltungs-Musik. Das ist keine Kunst.
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Betrachtet man sich die Wertemaßstäbe in der Musik, fühlt man sich in die Literatur hinein gestoßen. Kunsthandwerk ist alles, weihevolle Zeremonien gehobenen Konsums, hinter denen das Wesen eines Werks verschwindet. Nichts davon, dass Kunst, ob sie Musik oder Literatur oder etwas ganz anderes produziert, immer mit der Zeit, in der sie entsteht, verknüpft ist, mit den Umständen, den Menschen, den Aggressionen. Und dass sich Kunst immer entäußert, niemals selbstreferenziell sein kann.
Rockmusik etwa. Sie war und ist ein wichtiger Teil des Identifikationsprozesses von jungen Menschen. Völlig ohne Belang, wie sie entsteht, viel wichtiger, was sie bewirkt, was sie auslöst und ausgrenzt.
Das Naserümpfen derer da oben in den hochsubventionierten Opern- und Konzerthäusern über die da unten in den stickigen Mehrzweckhallen ist Ausdruck völligen Deplatziertseins in der Kunst. Tradition, Zeremonie, Handwerk, leeres Theoretisieren finden sich aber nicht nur zwischen E und U.
Rockmusik etwa. Als 1976 Punk auftauchte, geschah dies zum Missfallen der Rockenthusiasten, die sich zwanzigminütige Stücke von YES und anderen, natürlich „klassisch ausgebildeten“ Bands reinzogen und den Wert eines Songs an der handwerklichen Qualität des dort unweigerlich präsentierten Gitarrensolos bemaßen. „Gut“ bedeutete: das ist Kunst, das kann nicht jeder, dazu braucht man etwas anderes als Wurstfinger. „Schlecht“ hieß: Das kann ich auch.
Ein sich quer durch die Künste ziehendes Muster. Was ich selbst kann, kann keine Kunst sein. Zum Beispiel rote Quadrate malen oder D-Dur auf der Gitarre greifen oder einen Satz wie „Ich entleerte das Magazin meines Revolvers in sein Hirn“ schreiben. Irgendwie schnurrt hier eine faszinierende, unendliche Welt auf die Dimensionen eines Hobbykellers zusammen, in dem nur das Handwerk begutachtet wird.
Rockmusik etwa. Zu den dümmlichsten Argumenten gegen „elektronische Musik“ zählt die Behauptung, sie sei keine „ehrliche, handgemachte Musik“. Man wird von Seiten der Freunde klassischer Musik sich auch stets gegen den Vorwurf, sie applaudierten lediglich sinnentlehrtem Handwerk, wehren und auf „das Ästhetische, das Atmosphärische, das Philosophische, das Psychologische“ ihrer Musik verweisen. So soll es auch sein. Aber dieses Ästhetische, Atmosphärische, Philosophische, Psychologische und meinetwegen auch noch Zeitkommentierende ist keine Frage handwerklicher Perfektion, sondern ausschließlich eine Frage der Angemessenheit dieses Handwerks. Wer die Gitarre virtuos zu bedienen versteht, ist klar im Vorteil. Aber nur dann, wenn er sich nicht scheut, seine Virtuosität dann, wenn es angemessen ist, auf drei Akkorde zu beschränken.
Es muss Anfang der Siebziger gewesen sein, als ich zum ersten Mal Trois Gymnopédies von Eric Satie hörte. Natürlich in einer Version der Jazzrockgruppe Blood, Sweat & Tears. Es war natürlich beeindruckend. Es war Kunst. Es war große Scheiße. Viele Jahre später hörte ich Trois Gymnopédies zum zweiten Mal, in der Version von Reinbert De Leeuw. Ich war hingerissen, entzückt, es war das Impressivste, was man nur gehört haben konnte. Wieder ein paar Jahre später hörte ich Trois Gymnopédies zum dritten Mal, wer es interpretiert hat, ist mir gnädigerweise entfallen. Der da spielte, spielte viel zu schnell, es klang wie Kirmesmusik, es packte mich nicht. Angemessenheit. Nicht Technik.
Ende des Exkurses. In ihm steckt alles über Glanz und Elend von Kriminalliteratur. Also:
Analogien
- Kriminalliteratur wird nicht dadurch nobilitiert, dass man sie von „richtigen Literaten“ fabrizieren lässt. Derek Raymond wird nicht dadurch ein großer Schriftsteller, dass sich irgendwer hinsetzt und im Raymondschen Werk alle falschen Konjunktiv- und Partizipialkonstruktionen korrigiert.
- Das Handwerk ist keine absolute Größe. Dass Bob Dylan nicht singen könne, mag außerhalb seiner Kunst, in einer technoiden und messbaren Welt richtig sein. Dies gilt auch für die Literatur. Weder gibt es Normen für den Gebrauch des Handwerkszeugs Sprache noch hat jemals ein Mensch auf diesem Planeten existiert, der „die Sprache“ beherrscht hätte. Wenn man KriminalautorInnen wie Pieke Biermann, Wolf Haas oder Norbert Horst vorwirft, sie könnten nicht „in ganzen Sätzen grammatisch korrekt“ schreiben, dann zeugt dies nur von unüberbrückbarer Distanz der Kritiker zum Wesen der Literatur.
- Kriminalliteratur steckt bis über die Ohren in Kontexten. In literarischen, gesellschaftlichen, psychologischen, ideologischen. Sie außerhalb dieser Kontexte zu bewerten, degradiert sie zum Gegenstand sinnleerer Zeremonien.
- Kriminalliteratur kann sich nicht im Repetieren bewährter Muster erschöpfen. Sie ist keine Zirkusveranstaltung, bei der ein fünffacher Salto in der Zeltkuppel mehr wert sein muss als ein auf dem Boden geschlagenes und missglücktes Rad.
- Kriminalliteratur ist Interpretation ihrer Themen, kein Garant für intellektuelle Festivitäten. Wer die Klaviatur des Genres „beherrscht“, liefert nicht unbedingt gute Krimis, also solche, die ihre Mittel und Absichten dem Thema anpassen.
- Kriminalliteratur wird letztlich zwischen Text und Leser abgemacht, nicht zwischen Text und Konvention.
Um die Musikanalogie mal weiterzuführen: Wenn einer sein Instrument nicht beherrscht, kommt nur Geschrammel raus. Erst wenn er es beherrscht, kann er anfangen, damit zu experimentieren.
Für die Literatur heißt das: Die Sprache muss dem Gegenstand angemessen sein (was immer das im Einzelnen heißt). Falsche Grammatik bleibt so lange einfach nur falsche Grammatik und Beherrschtwerden von falscher Sprache, bis diese falsche Grammatik einen neuen, einen sinnvollen Sinn gebiert.
Dass die Bewertungsmaßstäbe der Kritiker sich voneinander unterscheiden, ist und bleibt eh klar: qed.
da hab‘ ich ein Problem: „falsche Grammatik“ erscheint mir ungrammatisch. Wenn das richtig wäre, befände sich Herr Patzer im Vicious Circle — oder?
Beste Grüße!
Ich hab generell meine Probleme mit richtig / falsch in der Literatur. Dass Sprache „falsch“ sein kann, hat weniger mit der Sprache als mit der Absicht oder generell dem Text selbst zu tun. Das letzte Buch mit falscher Sprache, das ich (wenigstens 80 Seiten lang) gelesen habe, war Thea Dorns „Mädchenmörder“. Grammatisch gabs daran nichts auszusetzen…
bye
dpr
Einverstanden. Dann sage ich „falsch“. Natürlich kann sie auch grammatisch „richtig“ sein, und trotzdem „falsch“.