Eine Bestseller – Strategie

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Endlich hat Bestseller-Kurzratekrimi-Autor Dale Patrick Rutherford das Flehen seiner Gemeinde erhört und eine legendäre Figur reanimiert, um sie in ihrem vertracktesten Fall durch die Welt des Verbrechens zu geleiten: Anna Beller! Wie immer wird sie von ihrem Assistenten Gunter Gras begleitet, dem Experten für das Eisenbahnwesen im Sachsen-Anhalt der 70er Jahre des 19. Jahrhunderts, dessen Fachwissen schon bei der Aufklärung so mancher Straftat von Nutzen war.

Interessiert betrachtete Anna Beller den fassungslosen Mann, der hinter einem mächtigen Schreibtisch in einem gediegenen Büro saß.

„Sie heißen?“

„Galvanus. Torsten Galvanus. Ich bin der Inhaber von LEICHENBUCH.“

LEICHENBUCH war der auf Kriminalliteratur spezialisierte Verlag, in dessen Geschäftsräumen vor kaum einer Stunde ein Toter aufgefunden worden war: der Genredebütant Bruno de Korsela.

„Sie sind Kleinverleger?“

Galvanus hob erstaunt sein erschüttertes Haupt.

„Woher wissen Sie das?“ fragte der kaum 1 Meter 60 große Mann.

„Es ist mein Beruf, vieles zu wissen“, antwortete Anna Beller. „Und jetzt erzählen Sie mir bitte der Reihe nach, was sich heute morgen gegen acht Uhr hier zugetragen hat.“

Galvanus seufzte tief und räusperte sich endlich.

„Eine delikate Geschichte, Frau Kommissarin. Der Tote – ich meine – Bruno de Korsela, als er noch nicht tot war – hat bei LEICHENBUCH seinen ersten Kriminalroman veröffentlicht. „Hände weg von Dorothea“. Ein beeindruckendes, vielversprechendes Werk auf der Höhe des Genres. Leider – Herr de Korsela hat kein Blatt vor den Mund genommen. Unter anderem hat er Herrn Dürkheimer“ – Galvanus blickte kurz zu einem finster und starr in einem entfernten Sessel brütenden, elegant gekleideten Mittvierziger, der nun ein rhythmisches Kopfschütteln begann – „hat er also Herrn Dürkheimer, einen der blendendsten Kritiker der Branche“ – der so Titulierte ging vom Schütteln des Kopfes in ein nicht weniger rhythmisches Nicken über – „schwer beleidigt. Zum Beispiel als — Kriminutte und Intellektuellen.“ Dürkheimer murmelte Unverständliches in seinen durchaus vorhandenen, gepflegten 17-Tage-Bart.

„Nun, wie auch immer“, fuhr Galvanus fort, „wir haben uns hier bei mir getroffen, um die unschöne Sache im Rahmen eines geselligen Versöhnungstermins aus der Welt zu schaffen. Für acht Uhr waren wir verabredet. Herr Dürkheimer erschien pünktlich, de Korsela zehn Minuten später. Bevor wir das Gespräch beginnen konnten, verließ de Korsela das Zimmer. Wir warteten. Fünf Minuten. Herr Dürkheimer nutzte die Wartezeit zur Frequentierung unserer Toilettenräume. Ich selbst begab mich auf die Suche nach Herrn de Korsela. Als ich vor der Tür unseres Gemeinschaftsraumes stand – meine Sekretärin, Frau Neufang und ich nehmen dort unsere Mahlzeiten ein -, gab es hinter dieser Tür plötzlich einen furchtbaren Knall. Ich stand wie erstarrt, bis Herr Dürkheimer neben mir stand und fragte, was das eben gewesen sei. Wir öffneten die Tür und fanden Herrn de Korsela in seinem Blut. Er hielt eine Pistole in der Hand, mit der er sich in den Kopf geschossen hatte.“

Anna Beller nickte und wandte sich Dürkheimer zu.

„Können Sie das bestätigen?“

Auch Dürkheimer nickte. Sagte aber nichts. Anna Beller stellte ein Paar neue Fragen in den Raum.

„Können Sie sich ein Motiv für diese Tat vorstellen? Herr Galvanus? Herr Dürkheimer?“

Der zuerst angesprochene seufzte.

„Ich befürchte… also… es ist so. Trotz seiner unbestreitbaren Qualitäten hat sich „Hände weg von Dorothea“ bislang nicht als Verkaufserfolg herausgestellt.“

Dürkheimer lachte auf.

„In unseren Kreisen heißt das Buch „Hände weg von diesem Scheißdreck““.

Dann versank er wieder in Schweigen und rhythmisches Kopfnicken.

Galvanus seufzte abermals.

„Was sollten wir tun? Wir sind, wie Sie richtig sagten, ein Kleinverlag. Unsere Mittel sind begrenzt. Ich schlug – bei einer kleinen Feier, es floß, wie ich zu meiner Entschuldigung sagen muss, viel Alkohol – vor, Herr de Korsela solle sich erschießen, damit er in die Zeitung kommt. Es gibt keine bessere Werbung. Es war ein schlechter Scherz, ich weiß. Ich konnte doch nicht ahnen, dass…“

„Herr Galvanus“; mischte sich Dürkheimer ein, „ist der irrigen Meinung, Kritiker würden keine toten Autoren verreißen.“

„Mag sein“, sagte Galvanus, „und de Korsela antwortete auch, bei seinem Pech käme er nicht mal in die Zeitung, sondern höchstens auf die Bestenliste.“

Anna Beller hatte sich inzwischen dem Bücherregal genähert, in dem die Gesamtproduktion von LEICHENBUCH aufgereiht war. Ein Werk mit grauen Cover, auf dem sich zwei Männer die Hände schütteln, erregte ihr Interesse. Galvanus war dies nicht entgangen.

„Auch so ein Fall“, sagte er. „Dieses hoch artifizielle Werk lag ebenfalls wie Blei in den Regalen. Bis sich der Autor entschloss, als Krawallschachtel der Krimiszene aufzutreten. Jetzt verkauft es sich wie geschnitten Brot, der Autor tritt sogar zu öffentlichen Schlammringkämpfen mit älteren Kritikern oder wahlweise barbusigen Nackttänzerinnen an.“

Jetzt seufzte die Beller.

„Herr Dürkheimer, warum tragen Sie eigentlich Handschuhe? Mitten im Juli?“

Dürkheimer schaute überrascht auf.

„Das ist mein persönlicher Stil. Man muss sich absetzen in dieser Branche.“

„Gibt es eigentlich einen zweiten Zugang zum Gemeinschaftsraum, in dem sich der Autor…?“

Galvanus nickte.

„Ja. Er führt auf den Flur, gegenüber ist das Badezimmer.“

Dürkheimer lachte wieder.

„Wollen Sie etwa sagen, dass ich? Warum? Ich hatte doch…“

Der Eintritt von Kriminalhauptsekretär Gunter Gras unterbrach Dürkheimer.

„Herr Galvanus? Draußen ist ein Spediteur. Er fragt, was er mit den Büchern in seinen drei LKWs machen soll. Das Lager ist zu klein dafür…“

Galvanus seufzte so tief wie nie zuvor.

„Ach, das hatte ich ganz vergessen. Eine Ladung von „Hände weg von Dorothea“. Welche Tragik! Gerade jetzt… Wenn Sie mich für einen Moment…“

Anna Beller winkte ab.

„Schon gut. Machen Sie nur. Der Fall ist gelöst.“

Wer ist der Mörder? Galvanus oder Dürkheimer? Oder ganz jemand anderes? Oder war es doch Selbstmord? LeserIn, übernehmen Sie! Und begründen Sie gefälligst Ihre Lösung!

Dale Patrick Rutherford

16 Gedanken zu „Eine Bestseller – Strategie“

  1. Anna Beller war’s. Sie konnte es nicht mehr ertragen, all diese eitlen Krimiautoren, die es nicht mal fertigbringen, einen gescheiten Winzerkrimi zu schreiben. Weg damit also.

    Außerdem: Genresprengung! Tabubruch!

  2. Falschaussage von Galvanus und Neuanfang („gab es einen Knall in dem Zimmer), um sich a) zu schützen und den Verdacht auf Dürkheimer zu lenken. Haben De Korsela erschossen und bereits den Spediteur mit „Hände weg von Doroteha“ bestellt, weil die Verkaufszahlen nach dem SElbstmord/Mord in die Höhe schnellen werden.

    Fall gelöst.

    *lacht

  3. ja, was nu?
    einmal im leben rate ich hier KONZENTRIERT mit, präsentiere die lösung, die mit der ÜBERSCHRIFT korresponiert, und, dann?

    *arme in die hüften gestemmt
    **wartet

  4. Rätselkrimis sind imho ein sehr anspruchsvolles Genre. Immer zielen sie auf Erkenntnis, auf Wahrheit, aber der Horizont für diese Wahrheit kann frei gewählt werden. Ich kann fragen: Wer von meinen Figuren ist es gewesen (und mache mich zum godfather, da ich den Rest der Menschheit ausschließe), ich kann mir einen Helden überlegen, dessen beschränktes Hirn nur eine gewisse Menge an Indizien aufnehmen und wiegen kann und seine Urteilskraft zum Maßstab nehmen, ich kann relative Wahrscheinlichkeiten geltend machen oder die Frage so formulieren, dass sie das eigentliche Rätsel ist. Aber immer muss der Krimi kantischen Prinzipen entsprechen. Auch wenn man versucht, die Grenzen des Genres auszudehnen und die Lösung mehr erfühlt als ergrübelt werden muss. Immer muss zum Schluss der unanfechtbare Beweis herauskommen. Die Buchladung, die der Verleger zum Schluss entgegennimmt ist natürlich kein Beweis, sie ließe sich durch x Dinge erklären, von denen in der Geschichte keine Rede ist. Also Selbstmord oder Tod auf Verlangen, denn das Schicksal des Autors ist ja sowieso besiegelt. Ein höchst anspruchsvoller Kurzkrimi also, in dem die Motive des Täters/Opfers eindeutig im Vordergrund stehen.

  5. Du sprichst mir aus der Seele! Genauso ist es! Kant! Höchster Anspruch! Übermorgen will der Autor mit der Lösung rüberkommen, wir rätseln hier in der Redaktion selbst wie die Maulwürfe und kommen einfach auf keine vernünftige Lösung…

    bye
    dpr

  6. Ich bin ja eher der Verfechter der taoistischen Lösung. Also: Konfusius war’s. Das heißt, weil er die Frau gering achtete, die Kommissarin. Ist doch ganz einfach. Außerdem ist der Taoismus lange vor Kant dagewesen, weiß also mehr.

  7. aber die story „an sich“ ist doch auf dem Mond! „Glauben Sie an Gott vernünftigerweise, aber er ist unbeweisbar“. Auch Julio Cortazar hätte Rätselkrimis schreiben sollen. Sein Gläubiger: Das „Leser-Weibchen“ (seine Worte), das den Himmel über der Geschichte hinnimmt (anhimmelt). Rätselkrimis beweisen die Unbeweisbarkeit der ganzen Literatur, ja, das glaube ich.
    Oder ist es nicht tragisch, dass just an dem Tag, als der Autor ermordet wird, die Laster mit den Remittenden auftauchen und der Verleger lebenslang unschuldig hinter Gitter muss? Nur der Rätselfuchs reibt sich die Hände.

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