Über den bleichen Gebeinen dieser seit einem vollen Vierteljahrhundert vergessen schlummernden Geschichte wölbt sich eine prächtige Bedeutungskathedrale. Goya! Der Rationalismus! Die Inquisition! Und bevor wir uns vergewissern können, ob diese Gebeine zu einer bedeutenden oder einfach nur überschätzten Geschichte gehören, müssen wir uns ein wenig der Architektur ihres Verwahrortes widmen.
„Grüße aus Bad Walden. Mord auf Super 8“: so hieß der Roman 1981 als Fischer-Taschenbuch, ein Jahr zuvor als „ZDF-Krimi“ versendet, sehr zum Mißvergnügen des Autors, der sich im Nachwort der Neuausgabe über den von Regie und Redaktion „zum üblichen Einheitskrimi“ verschandelten Text beklagt. Anlässlich der Werkausgabe im Verbrecher Verlag hat Lorenzen, inzwischen 85, „Bad Walden“ „weitgehend neu geschrieben“, und zwar explizit als „Bedrohungskrimi“ – was Lorenzen für „ein eigenes Genre“ hält (dazu später mehr).
Der Roman heißt jetzt nur noch „Bad Walden“, trägt aber den Untertitel „El sueño de la razón produce monstruos“. So wiederum heißt eine berühmte Zeichnung des spanischen Malers Goya: Der Schlaf / der Traum der Vernunft gebiert Ungeheuer.
Was aber drückt diese Zeichnung aus? Das Problem liegt im Wort sueño, das sowohl „Schlaf“ als auch „Traum“ bedeuten kann. Es ist aber ein Unterschied, ob die schlafende, also passive Vernunft Ungeheuer gebiert oder die träumende, aktive. Im ersten Fall entsteht das Ungeheuerliche und Irrationale wegen der Abwesenheit von Vernunft. Im zweiten ist es gerade die Anwesenheit von Vernunft, die das Irrationale hervorbringt.
„Bad Walden“ ist in 27 Kapitel unterteilt, die aber nicht „Kapitel“ heißen, sondern „Pein“. Ihnen zugeordnet sind wiederum die Titel von Zeichnungen Goyas aus den Zyklen „Desastres“ und „Caprichos“, die sich u.a. mit den Schrecken des Krieges und der Inquisition beschäftigten. Auf die Inquisition verweisen auch die vier Teile („pars“) des Buches: Die Terration (Androhung) – Die Tortur (Folter, um ein Geständnis zu erpressen) – Das Autodafé (Die Vollstreckung) und Die Garotte (Art der Vollstreckung).
Dies also zur Architektur, zum Bedeutungsnetz des Textes, dem wir uns jetzt zuwenden wollen. – Doch ach!, welch eine Fallhöhe! Was für eine profane, von einer knarzigen „Krimihandlung“ notdürftig ins Spannungssegment gehievte Geschichte! Wir lernen den Antiquitätenhändler und Kunstgeschichtler Claus Jordan (48) und seine Frau Susanne (24) kennen, beide führen zusammen mit Partnerin Margret einen Antiquitätenladen in Frankfurt am Main. Soeben kommen sie mit dem Auto von einer Einkaufsreise aus Südfrankreich zurück, befinden sich auf Schwarzwaldhöhe. Susanne quengelt, sie will noch ein paar Tage Urlaub machen – warum nicht im nahen Bad Walden, einem leicht heruntergekommenen Kurort? Gesagt, getan. Die Saison ist vorüber, man empfiehlt eine Pension, die noch heruntergekommener ist als Bad Walden selbst. Skurriles Personal kreuzt den Weg der beiden Urlauber, ein sogenanntes „Höllental“ wird durchwandert, ungehobelte Servicekräfte, italienische Gastarbeiter sind zu ertragen. Und der „Schriftleiter“ der örtlichen Zeitung, Uwe Hinz. Er braucht eine Bankbürgschaft, um die vorgenannte Pension seiner Tante herzurichten. Uwe hat einen bösen Plan und führt ihn aus: Mit Hilfe eines manipulierten Super-8-Films erpresst er die Jordans und suggeriert, diese hätten einen Mord begangen.
Schweigen wir von der Logik dieses Plans. Es hakt an allen Ecken und Enden. Aber das macht nichts, denn „Bad Walden“ ist als Satire leicht erkennbar, ein Sittenbild seiner Zeit (1978), Andeutungen von Umweltzerstörung und Immobilienspekulation (eine Autobahn soll gebaut werden, was die Grundstückspreise in die Höhe treibt – und genau dafür braucht Hinz auch die Bürgschaft), das klischeehafte Gastarbeiterleben, die Degeneration des ländlichen Raums und seiner Bewohner etc. Hübsch, aber nicht mehr – wenn da nicht die Bedeutungskathedrale wäre…
Ihr erster Pfeiler weist ausgerechnet am schwächsten Glied der Handlungskette in die Höhe. Anstatt nämlich die Polizei einzuschalten oder den dilettantischen Erpressungsversuch zu ignorieren, wissen die Eheleute nicht, ob sie vielleicht doch schuldig sind. Dass Claus nicht so genau weiß, ob er eine junge Frau mit einem Knüppel erschlagen hat, will ja noch einleuchten. Er wird als „manisch-depressiv“ geschildert, was aber nur bedeutet, dass er unter extremen Stimmungsschwankungen leidet. Diese entstehen aus seiner Lebenssituation heraus: Einerseits muss er rationaler Geschäftsmann sein, andererseits ist er weltferner Schöngeist. Hier begegnen wir dem im Untertitel des Romans angelegten Dilemma zum ersten Mal. Merkwürdiger ist die Reaktion seiner Frau Susanne. Auch sie, die angeblich den Mord gefilmt hat, weiß nicht so genau, was tatsächlich passiert ist. Dabei gibt sie sich als kalt berechnende, vernunftgesteuerte Person.
Es ist der Fatalismus des Ehepaares, der die Handlung weitertreibt. Sie befinden sich, wie Claus, der Kenner von Kunst und Historie, hellsichtig erkennt, mitten in einer Inquisition. Das Urteil ist schon gefällt, der Prozess eine Farce, es gibt kein Entkommen. Ob also die schlafende Vernunft Ungeheuer gebiert (wie bei Susanne) oder diese durch die Abwesenheit von Vernunft entstehen (wie bei Claus), spielt letztlich keine Rolle. Man wird vom Leben gepackt und mitgezogen, man heult mit den Wölfen, man ist schuldig, auch wenn man unschuldig ist.
So liest man sich durch den Roman, Goya im Hinterkopf. Und weiß doch, dass die eigentliche Frage, ob es sich hier um einen wichtigen oder überschätzten Text handelt, erst am Ende beantwortet werden kann. Denn noch steht die Bedeutungskathedrale auf tönernen Füßen, ihr fehlt der konsequente Schluss. Bleibt er aus, haben wir es mit einer zwar cleveren, letztlich aber nutzlosen Sinnhuberei zu tun. – Indes: Die Geschichte von Claus, Susanne und, später, auch Margret dreht sich genau in die notwendige Richtung, dorthin, wo die Vernunft schläft und überwältigt wird und sich zugleich darin ergeht, das Unvernünftige zu träumen. Plötzlich wendet sich alles ins Materielle, es riecht nach Geld und Wohlstand, die Opfer werden Täter, die Täter Opfer. Das ist, wenn man es nur ein wenig weiterdenkt, auch eine wunderbare Systemanalyse zum gegenwärtigen Finanzcrash. Was wir aber nicht weiter ausführen wollen. Lesen Sie selbst, es beschäftigt ihre Vernunft / Unvernunft, es lohnt sich also. Ach ja: Ein „eignes Genre“ hat Lorenzen, nach eigenem Bekunden kein Experte für Kriminalliteratur, hier nicht erfunden. Aber das eigene Genre des ernsthaft-verspielten, vertrackt-realistischen Krimis um ein weiteres Prachtexemplar bereichert.
Rudolf Lorenzen: Bad Walden oder El sueño de la razón produce monstruos.
Verbrecher Verlag 2008. 234 Seiten. 22,90 €