Der Karnevalskiller. Aus den Abgründen eines alten Kriminalisten

Sein ganzes Leben lang hatte der alte Kommissar gegen das Verbrechen gekämpft. Jugendlichen Schwarzfahrern begegnete er grundsätzlich mit entsicherter Pistole – man konnte ja nie wissen. Verkehrssünder, Ehrenmörder, Ladendiebe, Besitzer notorisch in Sandkästen urinierender Hunde: Der alte Kommissar hasste sie alle. Einen aber liebte er wie sonst nur noch sich selbst und wünschte sich, er werde ihn niemals dingfest machen müssen.

Das war der Karnevalskiller. Ein anonymer Wohltäter der Menschheit, der eindrucksvoll bewies, wie eine präzise geworfene Handgranate aus einem Elfer- einen Fünferrat machen konnte, der fortan mit der Hälfte seiner Gliedmaßen und seiner guten Laune humorterroristischen Veranstaltungen vorsitzen musste; ein Engel des kultivierten Geschmacks, als er den brachialen Witzereißer „De Doof“ per Vogelschrot sauber aus der Butt geblasen hatte; ein Genie der Vielfalt, dem die Funkenmariechen des Kölner Karnevals komplett durch wahlweise Erwürgen, Ersticken, Erstechen und Schänden zum Opfer fielen.

Waren das Verbrechen? Manche nannten es so. Der alte Kommissar, der gewiefte Praktiker, allerdings nicht. Er nickte nur stumm vor Freude und ermittelte lustlos; legte falsche Spuren, vernahm die falschen Zeugen, zog die falschen Schlüsse. Denn, oh!, welche Verbrechen, sämtlich ungesühnt, gingen auf das Konto der närrischen Zeit! Verbrechen gegen den Humor und die Ästhetik, Verbrechen gegen die Sprache, die Musik, Verbrechen gegen die Intelligenz und alles, was denkende Menschen in Jahrtausenden mühsam erschaffen hatten. Plato! Kant! Hobbes! Handke! Sie saßen im Himmel wie auf Erden und schüttelten die weisen Häupter nicht weniger liebevoll als der alte Kommissar das seine.

Schaudernd gedachte der alte Kommissar all der im Laufe seines Lebens erlittenen Kappen- und Prunksitzungen, der Fernsehveranstaltungen zumal, die seine – glücklicherweise verstorbene – Ehefrau zu ertragen ihn gezwungen hatte. Die desaströsen Dekolletes der Damen mit ihren Schweißrändern auf trockener Eselshaut! Jungmannen mit fickrigen roten Pickeln in der Weinseligkeit eines sogenannten Gesichts, die Narrenkappe keck über dem unermüdlich Schuppen kalbenden Haupthaar! Und erst die alten Männer! Die Juristen und Bilanzbuchhalter, Politiker und Schlagetote aus Wirtschaft, Sozialem und Raubadel! Wie sie ihre Häme herauslachten, ihre Gehässigkeit in die Dekolletes vorstehend beschriebener Damen spien, sich mit Weinschorle, deutschem Schaumwein und französischem Weinbrand das verdorbene Blut auffrischten!

Hausten also die wahren Bestien, die blutrünstigsten Ungeheuer nicht unter uns? Als geachtete Bürger, die es einmal im Jahr wie den Mr. Hyde in uns allen zum Karneval zog? Brecht, dachte unser alter Kommissar, guter, noch älterer Brecht mit seiner unsterblichen Sentenz: Was ist die Einäscherung eines Rosenmontagszuges gegen das bloße Stattfinden eines Rosenmontagszuges? Eine nicht genug zu lobende Tat!

Nein, auf den Karnevalskiller ließ der alte Kommissar nichts kommen. Obwohl ihm Gesicht und Geist des großen Mannes, seine edle Philosophie, sein menschenfreundliches Handeln nicht in allen Einzelheiten gegenwärtig waren, verband ihn doch eine seltene Seelenverwandtschaft mit diesem Wohltäter aller denkenden Wesen, und wenn ihm das Herz ob all der Verbrechen, die bis Karnevalsdienstag geschahen, schwer war, kniete er nieder und bat IHN, er möge dazwischenhauen wie Thor mit dem Hammer.

Eines Tages jedoch war es soweit. Der Karnevalskiller hatte die Prunksitzung von Mainz-Gonsenheim vermittels eines Maschinengewehrs in seine Gewalt gebracht und drohte nun, alle Närrinnen und Narren niederzumähen, wenn nicht die Regierung an Eidesstatt und notariell beglaubt garantierte, dass ab sofort Schluss sei mit lustig. Erst wenn Büttenreden als extremistische Akte geächtet seien, wenn auf Schunkeln die Todesstrafe stehe und das Schwingen nackter Frauenbeine auf knarzenden Bretterbühnen mit lebenslanger Haft gesühnt werde, erst dann gebe er Ruhe und lasse die gefangene Schar ehedem frohsinniger, nun aber in schwerer Panik erstarrter Jecken unbeschadet ziehen.

Am alten Kommissar war es nun, mit dem Karnevalskiller zu verhandeln. Der Karnevalskiller war ein ergrautes Männchen, einstmals in mittleren Dienst einer staatlichen Bank beschäftigt, Junggeselle, Gelegenheitsraucher, Liebhaber mediterraner Pastagerichte. Der alte Kommissar seufzte. In der linken Tasche seiner Jacke wartete die entsicherte Pistole, „puste ihn weg!“, hatte ihm der Einsatzleiter noch zugemurmelt, „wenn du es nichts tust, tun es die Scharfschützen“, die auf den Balkonen postiert waren. Was sollte er machen?

„Ich bin“, begann der alte Kommissar, „glücklich, Sie endlich persönlich kennenzulernen. Seien Sie versichert, dass jetzt Millionen Menschen draußen im Lande die Daumen drücken, dass Sie ungeschoren davonkommen, ihrer ehrenwerten Arbeit weiterhin nachgehen können und manch prächtiger Verdienstorden fürderhin Ihre Heldenbrust schmücken mag.“

Der Karnevalskiller hob mißtrauisch die Augenbrauen. „Aber?“ fragte er, „Die ganze Sache hat doch ein Aber, oder nicht?“

Traurig nickte der alte Kommissar. Ihm war nicht entgangen, dass der Karnevalskiller einen Schoppen Moselwein ergriffen und schon fast zur Gänze geleert hatte. Noch weniger war ihm entgangen, dass der Karnevalskiller keine Anstalten machte, das Entgelt für den genossenen Trunk auf den Tisch zu legen, damit eine Bedienung korrekt würde abkassieren können, wenn denn alles vorbei wäre und sie noch am Leben. Oh!, dachte der alte Kommissar, ist denn kein Ding unter der Sonne wirklich ohne Fehl? Hat auch ER, der göttliche Karnevalskiller, seine Abgründe, seine verbrecherischen Seiten?

So war es. Ein Dieb war er, dieser Karnevalskiller. Einen Schoppen Moselwein! Langsam und mit der Routine seiner beinahe vierzig Dienstjahre griff der alte Kommissar in die linke Jackentasche, ergriff die Pistole und zog sie in einer einzigen Bewegung hervor. Der Karnevalskiller machte sich hektisch an seiner UZI zu schaffen, doch zu spät, vergebens. Eine Sekunde später lag er da in seinem Blute, die Erstarrung der Geiseln löste sich, die ebenfalls paralysiert gewesene Dreimannkapelle spielte einen Tusch –tata-tata-tata- und bis in die Morgenstunden erklang es: „Der alte Kommissar hat den Karneval gerettet! Er lebe hoch, hoch, hoch!“

Er aber, den sie da hochleben ließen, war längst nach Hause gegangen. Dort hockte er im Dunkeln, ein Glas Bier in der Linken, die Pistole in der Rechten, und er wusste nicht, welchen Arm er zuerst heben sollte.

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