Eine kurze Studie zur Perspektive, erster Teil

Bevor man sich ans Schreiben eines Kriminalromans macht, müssen grundsätzliche Dinge geklärt werden. Das wohl wichtigste, weil folgenreichste: die Erzählperspektive. Wähle ich die auktoriale, also dritte Person Singular, oder wird die Geschichte aus dem Protagonisten heraus erzählt, erste Person Singular?

Er / sie oder ich? Er / sie UND ich? Gar Er / sie und ich und du wie in Zoran Drvenkars „Sorry“? Das Terrain, so scheint es, ist abgesteckt. Man entscheidet sich für eine Perspektive, die irgendwo zwischen dem allwissenden Erzähler (etwa bei Reginald Hill) oder dem rigoros aus dem Ich heraus berichtenden Protagonisten (z.B. bei David Peace oder Norbert Horst) liegt. Aber so einfach ist das nicht, denn die genannten Ankerpositionen sind so eindeutig keineswegs.

Nehmen wir Reginald Hill. Seine Geschichten werden aus der Distanz, von außen erzählt, der Autor weiß alles (Hill ist der Thomas Mann der Kriminalliteratur). Blickt man jedoch genauer hin, stimmt das nicht ganz. Denn die Perspektive des Autors bemächtigt sich auch seiner Figuren, er dringt in ihre Köpfe, ihre Gedanken, er schaut ihnen beim Denken und Analysieren zu. Das Erzählte fließt kontinuierlich und, ganz wichtig, von einer mehr oder weniger einheitlichen deskriptiven Sprache transportiert. Trivial: Hill schreibt in „korrekten, vollständigen Sätzen“, man sieht den Autor geradezu vor sich, wie er den Inhalt des Erzählten aus ihrem emotionalen Kontext nimmt und in eine einheitliche Form gießt.

Ganz anders bei Peace oder Horst. Hier ist man als Leser unmittelbar vor Ort, verfolgt die Handlung aus den jeweiligen Perspektiven der Protagonisten. Mit erkennbaren Folgen. Ein einheitlicher Erzählduktus fehlt, die Syntax zerbröselt. Es fehlt der gemeinsame Rahmen, in dem sich Autor und Leser treffen, dieser Blick von außen nach innen. Ein Autor, der distanziert erzählt, spannt diesen Rahmen auf und geleitet seine Leserschaft durch den Text. Nicht so beim radikalen ICH von Peace oder Horst. Was im Kopf des Protagonisten gedacht wird, kommt unmittelbar auf den Leser.

Praktisches Beispiel, willkürlich Hills „Der Wald des Schweigens“ entnommen:

„Seine Analyse traf es nicht ganz, dachte Ellie, als sie die anderen Gäste musterte. Zwar waren ein oder zwei, wie etwa der Theologieprof, dafür bekannt, daß sie beim ersten Gläserklingen auftauchten, aber es waren nicht nur die alkoholischen Trittbrettfahrer vertreten, auch die moralischen sorgten für eine hohe Gästezahl. Man befand sich offensichtlich am politisch korrekten Ort.“

Ellie Pescoe besucht eine Party und macht sich so ihre Gedanken. Eine Analyse ist nicht ganz zutreffend, es gibt schwere Alkoholiker und Moralisten, letztere verhalten sich politisch korrekt, d.h. sie werden nicht gerade die Politik von Frau Thatcher loben, sondern eher mehr Tierschutz fordern. Auffällig ist hier aber, dass die anscheinende Genauigkeit der Beschreibung bei näherer Betrachtung keine sein muss. Das mit der Analyse ist tatsächlich ein Gedanke Ellies, wie das „dachte“ hinreichend signalisiert. Ob Ellie allerdings auch die Kategorisierung der Gäste vornimmt, wissen wir nicht. Wahrscheinlicher: Die Perspektive wechselt fließend von Ellie zum Autor und seinem aus der Distanz gefällten Urteil.

Es versteht sich, dass die Wahl der Ich-Perspektive gravierende Folgen für den Erzählfluß und den Rahmen hat, den Hill im wiedergegebenen Zitat aufspannt. Ich möchte jetzt nicht konstruieren, wie etwa Peace oder Horst eine solche Szene schreiben würden, aber sie würden es ganz bestimmt ANDERS machen. Bei ihnen wäre eindeutig, dass Ellie, wenn wir in ihr für einen Moment die ICH-Erzählerin betrachten wollen, alles aus sich herausdenkt, was Hill distanziert wiedergibt. Aber eben anders, ohne den Rahmen, der sich bei Hill vor allem in der einheitlichen, kontinuierlichen Erzählform und den Kategorisierungen zeigt. Wo Hill „Alkoholiker“ und „Moralisten“ identifiziert, stünde bei Peace und Horst vielleicht „der versoffene Theologieprof“ oder „reden wieder mal von den moralischen Vorteilen des Tofufressens, die Heuchler“. Den Rahmen müßten sich die Leser selbst einrichten, indem sie etwa die Tofufresser als „politisch korrekt“ klassifizierten.

Wir sehen, dass die Wahl der Perspektive immer auch die Wahl der ihr gemäßen Sprache und Auswahl der Details sein muss. Hinzu kommt die Geschwindigkeit, mit der erzählt wird. Bei Hill ist sie, wie es sich für den distanzierten Autor gehört, fast immer gleich. Gerät etwa Dalziel in Panik, weil er seine Gespielin in einer Mordsache verhören und als Beschuldigte sehen muss, spiegelt sich dieser stressige Umstand nicht in einer schnelleren, auch syntaktisch / grammatisch zerzausten Sprache. Bei Peace ist es genau umgekehrt. Hier wird immer schnell erzählt, der Stress ist allgegenwärtig, selbst da, wo die Handlung eine Ruhephase, ein Reflektieren erlauben würde. Norbert Horst ist in dieser Hinsicht flexibler, was schlicht darin liegt, dass sein Ich-Erzähler neben dem ungebremsten, assoziativen Gedankenfluss einer streng organisierten Tätigkeit als ermittelnder Polizeibeamter nachgeht, die in ihrer Monotonie automatisch gedankliche Ruhepausen vorschreibt.

Alle drei genannten beherrschen ihr Metier. Und das ist ausschlaggebend. Es wäre geradezu lächerlich, Hill dafür zu schelten, dass er als allwissender, lenkender Autor die Geschichte in seinen Sprachduktus presst. Er darf das, denn er kann das vorzüglich. Ebenso hirnrissig der Einwand, Peace oder Horst machten es ihren Lesern vorsätzlich schwer, weil dem Erzählten der deskriptive Rahmen fehle oder das Schulenglisch / Schuldeutsch mit Füßen getreten werde. Denn auch sie wissen, was sie tun und wie sie es tun.

Der Durchschnittsautor (schweigen wir ganz von den allgegenwärtigen Dilettanten) beherrscht die Kunst der Perspektive in der Regel NICHT, vor allem dann nicht, wenn er die ICH-Position wählt. Ein – von mir spontan erfundener – Satz wie „Ich beobachtete die Partygäste und stellte fest, dass sie sich alle politisch korrekt verhielten“ wäre einfach daneben. Trotzdem gibt es Autoren – etwa Manfred Wieninger -, die auch in der Ichform jene Distanz des auktorialen Erzähler stimmig aufbauen können. Bei Wieninger gerinnt die Distanz des Autors zu einer charakteristischen Geste des Icherzählers, eine Position zwischen Hill und Peace / Horst, die auch sprachlich perfekt umgesetzt wird.

Mustergültig hat das Ineinandergreifen von Ich und Er / Sie die beste deutschsprachige Krimiautorin des 20. Jahrhunderts inszeniert. Bei Pieke Biermann lässt sich das Objektive (um ein problematisches Synonym für die distanzierte Perspektive einzuführen) nicht vom Subjektiven (Ich) trennen. Die Autorin sitzt immer in den Köpfen und gleichzeitig über der Szenerie, das Tempo ist untrennbar mit dem Ort verbunden, an dem die Geschichte spielt (sehr schön in „Vier, Fünf, Sechs“ zu beobachten).

Ich ist also nicht immer Ich und Er nicht immer Er. Es gibt aber eine dritte Instanz, die des Interpreten, des Lesers. Ihr widmen wir uns demnächst.

16 Gedanken zu „Eine kurze Studie zur Perspektive, erster Teil“

  1. Es ist schon phänomenal, wie man bei Norbert Horst nicht weiß, ob er in der Ich- oder Er-Perspektive schreibt. Das kannte ich so noch gar nicht … Das ist doch aber bei Peace anders, oder … aber ich hab jetzt weder das eine noch das andere Buch, um das nachzuschauen …

  2. Bei N.H. wird ja auch nicht „ich“ gesagt. Die „subjektive“ Perspektive wird somit von vornherein „objektiviert“ (ich setz das jetzt mal in Anführungszeichen, dazu im zweiten Teil Genaueres). Das hat auch etwas mit der emotionalen Einheit einer Erzählweise zu tun. Bei Hill etwa wirkt sich der jeweilige emotionale Zustand des Protagonisten nicht auf den Sprachduktus aus. Bei Peace und Horst schon. Nun läuft das Ich bei Peace eigentlich Daueramok, bei Horst ist es in die Gleichförmigkeit einer beruflichen Tätigkeit eingebunden, was tatsächlich die Grenze zwischen Ich und Er manchmal aufhebt.

    bye
    dpr

  3. Oh, tschulligung! Könntest du bitte mal den Verfremdungsgrad und seine literaturhistorische Herleitung in Piekes Werk ermitteln? Unter Einbeziehung des präraffaelitischen Modernitätsdiskurses? Merci, mein Knabbermöhrchen!

    bye
    dpr

  4. ich könnte mühelos ein essay über konvergenzen zwischen „berlin, alexanderplatz“ und „herzrasen“ verfassen, der die alfred-döblin-gesellschaft vom stuhl hauen würde. aber das wurde sicher schon erledigt. das buch ist ja 10 jahre alt.

  5. ich habe oft das Gefühl, dass da leicht Kunstfehler möglich sind, Perspektivwechsel aus Unachtsamkeit oder aufgrund von Missverständnissen. Sie erlauben es zu sehr, dem schwitzenden, herumkonstruierenden Autor über die Schulter zu schauen, was unangenehm ist und die Märchenstunde stört. Z.B. wieder Mauriacs „Fleisch und Blut“, wo die ersten Kapitel ganz aus der Perspektive der männlichen Hauptfigur beschrieben und die anderen Personen nur Stohpuppen sind. So nach 50 Seiten bekommen die Puppen plötzlich ein Innenleben. Verdacht, der Autor hat sich in diesem Moment erst neu entschieden. In diesem Fall sympathisch, wirkt so authentisch. Anders, wenn es über eine Puppe plötzlich „sagte er gerührt“, heißt, statt „sagte er in einem Tonfall, der Rührung verriet“. Letzteres klingt seltsam und deshalb der folgenschwere Kunstfehler. Oder wenn Ian Rankin ein Kapitel konsequent aus der Perspektive des Millionärs schreibt, bis unvermutet sein Gegenüber sich „decided to“.

  6. Perspektivwechsel sind eine haarige Sache, wenn sie nicht mit Sprachwechsel einhergehen. Grundsätzlich ist es immer die Wirkung, die entscheidet. Dass man dabei dem Autor beim Konstruieren zugucken kann, nun ja: Wenn ich ein Buch wachen Auges lese, werde ich das immer tun können. Selbstzweck sollte es nicht sein (ich verweise hier aus gegebenem Anlass auf eine Rezension am Samstag…)

    bye
    dpr

  7. Kannst du solche Analysen des Handwerklichen beim Lesen noch ausblenden? Wenn nein, stört das den Lesegenuss nicht gewaltig?

    Wenn ich mir auferlegt habe, eine Rezension schreiben zu wollen – was ich in den meisten Fällen dann doch wieder verwerfe, weil mir das, was ich auf’s Papier gebracht habe, zu banal erscheint – ist mein Leseverhalten ein ganz anderes. Reflektierter, weniger sich auf die Geschichte einlassend.

    Gruß
    thomas

  8. Man kann und sollte das nicht trennen. Als Rezensent möchte ich ja nicht nur schreiben, ob etwas gelungen oder misslungen ist, sondern auch, warum. Dazu brauche ich eine gewisse Vorstellung von der Intention des Autors und den Mitteln, mit denen er sie realisiert. Den Überblick hast du sowieso erst, wenn du das Buch vollständig gelesen hast, deshalb ist wichtig, nach der Lektüre noch einmal durchzugehen, was da eigentlich passiert ist. Noch wichtiger: die Art, wie dich ein Buch einfängt. Manches kann technisch perfekt sein, ohne so etwas wie einen Lesegewinn zu hinterlassen. Dann nickt man zustimmend mit dem Kopf – gute Sprache, gute Dramaturgie -, ist aber dennoch leicht gelangweilt (ich verweise hier wieder auf den Samstag…). Das reflektiertere Lesen ist Gewöhnungssache. Dennoch würde ich behaupten, dass man bei etwas Übung auch ohne großartige Analyse SPÜRT, ob ein Text Substanz hat oder nicht. Man sollte es – siehe oben – in einer Rezension aber schon beim Namen nennen können.

    bye
    dpr

  9. …eine gewisse Vorstellung von der Intention des Autors…- Oh, das höre ich gern!
    Drvenkar liest sich wie ein zweiter Fitzek. Brauchen wir das? Nein. Schade, ich war so erwartungsvoll…
    Beste Grüße

    Henny

  10. Deine Antwort trifft nicht ganz das, was mich interessiert. Ich versuche es noch einmal anders.

    Ich unterstelle einmal, dass du immer noch die Zeit findest, Bücher zu lesen, die du nicht rezensieren darfst bzw. musst, sondern aus reinem Vergnügen liest; z. B. Liebesromane. Kannst du in einem solchen Fall den Rezensenten in dir und dessen „Technik“ des Herangehens an eine Rezension vergessen und unterscheidet sich deshalb dein „privates“ Leseerlebnis vom „beruflichen“ Leseerlebnis?

    Gruß
    thomas

  11. Spontane Antwort: nein. Vielleicht weil ich keine Technik des Herangehens an eine Rezension habe, sondern eine des Lesens allgemein. Der einzige Unterschied: Ich weiß, dass ich nachher keine Rezi schreiben muss, aber das ändert nichts daran, dass mir ein Buch a) entweder gefällt oder nicht gefällt und ich b) natürlich wissen möchte, warum dem so ist. Also das Sammeln und Ordnen während des Lesens bleibt hier wie dort gleich, nur das gedankliche und dann schriftliche Fixieren fällt flach. Einen Unterschied gibt es doch noch: Wenn ich ein Buch nur so für mich rezensiere, muss ich nicht mit Dritten, also LeserInnen kommunizieren. Bestimmte Sachen, die MIR so klar sind, dass ich sie nur flüchtig zu streifen brauche, muss ich LeserInnen natürlich unter Umständen genau erklären. Zum Beispiel den historischen Rahmen, in dem ein Text spielt. Wenn ich einen „historischen Krimi“ aus dem 19. Jahrhundert lese, brauche ich allenfalls zwei Seiten, um sagen zu können, warum das eine Mogelpackung ist. Damit ist der Fall erledigt. Dem Leser möchte ich aber schon klarmachen, warum ich es für irrwitzig halte, wenn solche „historischen Krimis“ nach den Mustern des 20./21. Jahrhunderts verfasst werden.
    Das alles ist natürlich nicht angeboren. Ich beschäftige mich halt seit Jahrzehnten mit Literaturanalyse. Ich habe es mir einfach angewöhnen müssen, Bücher nicht aus reiner Wollust zu lesen. Wobei das eine das andere nicht ausschließt. Lesearbeit kann Spaßlesen sein. Und umgekehrt.

    bye
    dpr

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