Bitte nicht von Cover und Titel täuschen lassen! Edward Bunkers „Lockruf der Nacht“ ist kein Produkt aus dem Hause Hard Case Crime und alles andere als schwülstiges Gepulpe. Natürlich kommt irgendwie alles zusammen: Pulp, Noir, Hardboiled, doch am Ende ist Bunkers Werk eben die eindrucksvolle Talentprobe eines großen und eigenen Autors.
Als Bunker „Stark“ (so der Originaltitel) Anfang der Sechziger Jahre schrieb, saß er im Gefängnis. Ein Schwerverbrecher, dem der Knast notgedrungen Schule des Lebens war. Aber er interessierte sich auch für Literatur, machte erste Handübungen. Sein öffentliches Debüt musste bis 1973 warten, war dann aber auch gleich ein Paukenschlag: „No beast so fierce“ („Wilder als ein Tier“). Für „Stark“ interessierte sich niemand, bis man das Manuskript nach Bunkers Tod 2005 wiederentdeckte und, mit einem euphorischen Vorwort von James Ellroy, 2007 bei der britischen No Exit Press herausbrachte.
Der Protagonist Ernie Stark ist Abschaum. Ein kleiner Ganove und Junkie, stets auf seinen eigenen Vorteil bedacht, völlig skrupellos. Er sitzt zwischen den Stühlen. Die Polizei hat ihn am Haken. Um nicht für die nächsten Jahre in den Knast zu wandern, soll er herausfinden, wer den dicken Hawaiianer Momo mit Heroin beliefert, das dieser dann im beschaulichen Städtchen Oceanview, Cal. vertickt. Bei einer solchen Sache kann man eigentlich nur verlieren, aber Stark will gewinnen. Mit allen Mitteln.
Und es scheint ihm zu gelingen. Er gewinnt nicht nur Momos Vertrauen, sondern macht ihm auch seine Freundin Dorie abspenstig. Die hängt ebenfalls an der Nadel, ein Mädchen aus gutem Stall, aber irgendwie darauf aus, sich selbst zu bestrafen. Und sich mit Stark einzulassen, ist so ziemlich die Höchststrafe. Irgendwie kommt Stark an die Hintermänner heran, doch so einfach läuft es natürlich nicht. Es gibt Probleme und Stark sich nicht damit zufrieden, die Polizei mit Informationen zu füttern. Nein, sein eigenes Ding will er drehen. Am Ende hat er’s geschafft – oder doch nicht?
Gut; es gibt – vor allem in der ersten Hälfte – die eine oder andere dramatische Unzulänglichkeit. Aber darüber kommt man als Leser schnell hinweg. Er bewegt sich in einer Welt des Fressens und Gefressenwerdens, hier geht es allein um den persönlichen Vorteil, Pardon wird nicht gegeben. Auch gut; so etwas erwartet man von dieser Art Kriminalliteratur. Was Bunker jedoch aus der breiten Masse dieser schmutzigeren Variante hervorhebt, ist sein beinahe analytischer Blick. Die Personen, allen voran Stark und Dorie, sind eben nicht nur schlicht „böse“. In winzigen Andeutungen (etwa wenn Dorie zwei Drucke von Renoir in Starks Bude entdeckt) werden die Menschen hinter den Fratzen sichtbar – um sofort wieder abzutauchen. Sehr intensiv die Szene, als sich die drei Junkies Stark, Momo und Dorie gemeinschaftlich die Spritze geben. Hier, das merkt man, schreibt einer, der weiß, was da läuft. Später wird Bunker seine Methoden perfektionieren, verdichten, er wird das Bestialische als condition humaine variieren, nicht ohne zu verschweigen, welche Tragik hinter all dem steckt.
In „Lockruf der Nacht“ sind die Anfänge dieser Strategie zu besichtigen. Noch etwas ungehobelter, aber deshalb nicht weniger eindrucksvoll. Rasanter Einstieg in die ernüchternde Welt des Edward Bunker.
Edward Bunker: Lockruf der Nacht. Liebeskind 2009
(Stark, 2007, deutsch von Jürgen Bürger). 220 Seiten. 16,90 €