Krimistammtisch: Charles den Tex, Die Zelle

Fünf aufmerksame Leserinnen und Leser haben am Krimistammtisch Platz genommen: →Henny Hidden, Thomas Elfers, →Kirsten Reimers, →Joachim Feldmann und dpr. Sie erzählen von ihrer Lektüre des Kriminalromans „Die Zelle“ des Holländers Charles den Tex. Es werden keine Bierkrüge auf Köpfen zerschlagen, keine unüberwindlichen Gräben tun sich auf. Man ist sich, im Groben, einig: „Die Zelle“ ist ein verdienstvolles, aber kein überragendes Buch. Jede / jeder findet Stärken und Schwachstellen, das Spannende daran: jede / jeder findet andere. Darüber morgen etwas mehr. Für heute: die fünf Rezensionen.
Seitdem ich John Katzenbachs „Patienten“ gelesen habe, ist mir deutlich geworden, dass man mit einem Krimi, dessen Thema um einen Identitätsverlust kreist, große Spannung erzeugen kann.

In der Tat können wir in Charles den Tex’ Krimi „Die Zelle“ eine ähnliche Vorgehensweise wie bei John Katzenbach beobachten. Verfolgen wir in der ersten Hälfte des Buches, wie das Opfer allem beraubt wird, was ihn einmal als unverwechselbares, identifizierbares Individuum auswies, erleben wir in der zweiten Hälfte, wie es mit der Wucht und Härte eines Outlaws zurückschlägt.

Und da sich jeder in unserer zivilisatorischen Gesellschaft vorzustellen vermag, was es bedeutet, seiner Identität verlustig zu gehen, ist die Einfühlung in den Protagonisten schon frühzeitig so stark fortgeschritten, dass der Vorschuss reicht, um für einen Bucherfolg alles Weitere aus dem professionellen Krimiärmel zu schütteln.

Aber Charles den Tex zieht einen größeren Rahmen. Bevor wir da landen, betrachten wir die Ausgangssituation.

Michael Bellicher, ein Amsterdamer Unternehmensberater, muss als Zeuge eines Autounfalls bei der polizeilichen Vernehmung feststellen, dass sich jemand seiner Identität bemächtigte, um damit kriminelle Taten zu verüben, die ihn an den Rand seiner Existenz bringen. Bis ihm das Ausmaß dieses Identitätsdiebstahls bewusst wird und er Gegenmaßnahmen ergreift, wird er noch tiefer in den Strudel gerissen. Es wird ihm klar, dass es im ersten Schritt der Gegenwehr nicht nur um das Aufdecken der für die kriminellen Aktionen verantwortlichen Namen geht, sondern um das Begreifen des dahinter stehenden Systems, um so die Schwachstellen zu finden, von denen er angreifen kann.

Und da Unternehmensberater zwar mit betrieblichen Zahlenkolonnen und werbewirksamen Imagebildchen vertraut sind, dem rauen Leben aber unvertraut, unbeholfen gegenüberstehen, werden Michael Bellicher einige Personen beiseite gestellt, die ihm bei dem aktionsreichen Kino, was über weite Strecken abläuft, unterstützen. Da lernen wir Richard, den Studenten, kennen, der nicht wie sonst üblich muskelbepackt den schlagkräftigen Part übernimmt, sondern in einer intelligenteren Variante besonders geistesgegenwärtig reagieren kann, und Klasman, den schneidigen Rechtsanwalt, dessen Verbindungen bis in die höchsten Kreise reichen, und der in misslichen Situationen unkompliziert helfen wird. Und da wir mit dem Autor die Erkenntnis teilen, dass man in einem harten Thriller auch etwas Weiches, Weibliches fürs Gemüt braucht, wird die zwielichtige, aber sehr attraktive Rechtsanwältin Gusje unseren Helden mit einigen Schäferstündchen aufzumuntern wissen.

Dass dann die ersten Spuren ins Prekariatsmilieu führen, enttäuscht nicht nur den Protagonisten, sondern auch den Leser, der durch medialen Konsum auf Verschwörungsszenarien programmiert ist. Doch dem Autor gelingt es geschickt, verschiedene Lebensräume miteinander zu verknüpfen, sodass der Leser keine Spannung verliert.

Inmitten der Verfolgungsjagden passiert dem Helden etwas, was seinen inneren Halt ins Wanken bringt. Nach einem Terroralarm wird Michel Bellicher bei einer routinemäßigen Überprüfung direkt in ein Militärgefängnis eingeliefert. Kurioserweise war er einmal als Unternehmensberater an der Ausarbeitung derartiger Einsatzrichtlinien beteiligt. Sich zur Elite zu zählen, aber es keinem beweisen zu können, fügt dem Ganzen schon eine tragikkomische Komponente zu.

Das Schlimmste, was einem auf dieser Seite des Erdenballs passieren kann, ist, als mutmaßliches Mitglied einer fundamentalistisch-islamischen Vereinigung verdächtigt zu werden. Die Untersuchungsmethoden, denen man sich bei den Militärs bedient, werden sehr eindrucksvoll geschildert, und diese Seiten gehören zu den stärksten Passagen des Buches. Sicher zieht man Parallelen und zusammen mit jenen dürftigen Angaben, die man über die abgeschotteten Militärgefängnisse dieser Welt medial aufbereitet erworben hat, steigert sich nicht nur das Ohnmachtsempfinden.

Nun, letztlich wird der Kampf um die Wiedergewinnung der Identität Bellichers intellektuell geführt und gewonnen. Wie mit virtuellen Angriffen der realiter Gegner aus der Defensive gelockt wird, wurde vom Autor sehr überzeugend dargestellt.

Dennoch, was wäre ein derartiger Thriller ohne eine Verschwörung?

Auch wenn man meinte, angesichts des Datenmissbrauchs in unserem vernetzten Leben würde das fiktive Spiel mit den geraubten Identitäten genug Brisanz beinhalten, um uns unsere Machtlosigkeit vorzuführen, mit der Einbettung des Intrigenspiels staatlicher Ordnungsmächte wird uns bewusst, wo die Grenzen unseres demokratischen Systems liegen.
Dass sich Allianzen schmieden, die als Staat im Staat sozusagen agieren und unter dem Deckmantel des wohlverstandenen Gemeinschaftsinteresses ihren eigenen Krieg führen, dass diese sich als Elite begreifend mit genügend krimineller Energie ausgestattet sind, um die Bürgerrechte einzelner mit Füßen zu treten, das wollen wir ins Reich der Phantasie verbannen und nur dorthin, oder glauben wir etwa, dass die gewählten Volksvertreter nicht willens oder nicht fähig sind, ihre Exekutive zu kontrollieren, denn wenn es vorstellbar wäre, dass sie diesem nicht nur national beschränkten Problem mit läppischen Untersuchungssausschüssen begegnen, müsste man es für skandalös halten.

Aus dem Buch könnte ein spannender Film werden. Ansonsten, ein grässliches Cover.

Henny Hidden

tex_trenner.jpg

Ambitionen sind zweifellos etwas Positives; sie bringen uns voran. Doch für einen Leser stellt sich nur ein sehr eingeschränkter Genuss ein, wenn ein Autor sich nicht auf seine schriftstellerischen Stärken besinnt, sondern sich auch auf anderen Gebieten versucht, die ihm nicht liegen.

Erstaunlich wenige Krimiautoren haben bisher die sich aus dem Internet ergebenden Möglichkeiten neuer Kriminalitäts-Formen mehr als nur beiläufig thematisiert. Mir fallen hier nur P.J. Tracy und Jeffrey Deaver’s neustes Werk „Der Täuscher“ ein. So ist allein die zentrale Thematik eines „Identitätsdiebstahls“ erfrischend und zudem überaus anregend, über die diesbezüglich ganz realen Möglichkeiten und dem eigenen Umgang mit Daten nachzudenken. Im Idealfall kann ein solches Buch, wenn es von den „richtigen“ Leuten gelesen wird, einen politischen Prozess anstoßen, Datenschutz als echtes Gemeinwohlinteresse und nicht als bloße Spinnerei wahrzunehmen. So passt es wunderbar zu diversen Vorfällen der letzten Zeit und ist allein deshalb lesenswert.

Für die literarische Qualität gilt das allerdings nur sehr bedingt. Einerseits hat es Charles den Tex wie nur wenige seiner Kollegen drauf, Action zu beschreiben. Der anfängliche Autounfall bzw. die Beobachtung desselben, die Verfolgungsjagd durch die Gewächshäuser und im Amsterdamer Bahnhof einschließlich des „Vorspiels“ im Zug waren reines, durchaus virtuoses Kopfkino. Dennoch habe ich seltsamer Weise an keiner Stelle – ganz im Gegensatz etwa zu dem v. g. Buch von Deaver – Spannung empfunden. Das Buch hat mich ohnehin lediglich bei der Beschreibung des Schicksals der Brüder berührt, ansonsten aber völlig kalt gelassen, obwohl es keineswegs ein kopflastiges Buch ist. Dies wird vermutlich an der großen Schwäche dieses Romans liegen, den handelnden Figuren.

Im Gegensatz zu der Handlung bleiben diese nämlich geradezu comichaft flach. So ist es den Tex nicht ansatzweise gelungen, mir etwa die für seinen Plot ganz zentrale Hilflosigkeit seiner Hauptperson Bellicher nachvollziehbar zu machen. Und wenn man sich flache Figuren in eine sehr plastische Handlungsbeschreibung hineindenkt, dann kommt dabei etwas sehr irritierendes heraus.

Eindeutig nervig wird „Die Zelle“ allerdings dort, wo den Tex auch noch versucht, mehr als actionlastige Unterhaltung zu schreiben. So schiebt er immer wieder Passagen ein, die ich als psychologisierend oder belehrend empfunden habe, etwa die politische Dimension seiner Geschichte. Und das wirkt sehr aufgesetzt und gewollt.

Im Ergebnis bleibe ich ratlos, was ich von dem Buch halten soll. Es ist in seiner Qualität ungewöhnlich uneinheitlich. Für einen ungeübten Rezensenten schwer greifbar.

Thomas Elfers

tex_trenner.jpg

Ich habe mir gestern verschiedene Modelle von Aktenvernichtern angeschaut. Die Passwörter von zwei E-Mail-Konten muss ich noch ändern. Alles eine Folge dieses Thrillers. Mir ist eine Gefahr bewusster geworden, die ich vorher nicht so ernst genommen habe – das passiert doch eh nur anderen, die leichtfertig mit ihrer Kreditkarte umgehen, dachte ich. Tja. Das Dumme/Gute an dieser Geschichte ist: Ich kann nicht wie bei anderen Thrillern sagen, dass mir das nie passieren würde. Das Realitätsnahe, das direkt mein Leben Berührende – das ist schon mal ein großer Pluspunkt.

Das besonders Gute sind die zwei miteinander verzahnten Ebenen des Verbrechens, das macht es noch glaubwürdiger. Die personale Ebene mit Ruud Zwaal, der aus einer persönlichen finanziellen Notlage und einem etwas schiefen Verantwortungsgefühl seiner Familie gegenüber ins Kriminelle rutscht – und die Ebene seiner Kunden darüber, die undurchdringliche Sphäre der Terrororganisationen/Nachrichtendienste. Dort spielen keine persönlichen Interessen eine Rolle, dort geht es um übergeordnete Motivationen. Also eher abstrakt. Sehr gefällt mir, dass der Übergang vom Persönlichen zum Abstrakten über den Warenhandel läuft – und wie symbolisch bei aller Konkretheit noch dazu: Indem das Persönlichste, die Identität des Individuums, auf Papier und in Daten gebannt werden kann, wird es zu Ware – auch hier ein Wechsel vom Personalen zum Abstrakten.

Folgerichtig lässt sich der Strang aufklären, in dem persönliche Gefühle eine Rolle spielen. Das ist greifbar, erklärbar. Auch sühnbar – wegen der personalen Komponente. Die Ebene darüber bleibt unangreifbar. Sie besteht unabhängig von den einzelnen Personen. Darum gibt es keine persönliche Schuld. Ermittler, die emotional motiviert sind, können auf dieser Ebene nichts ausrichten. Das ist eine andere Liga.

Schon mehrere Pluspunkte.

Zum Realitätsnahen der Gesamtszenerie tritt das Realistische einzelner Szenen. Die Zermürbung im Militärgefängnis ist sehr beklemmend geschildert. Der Verlust des Selbst oder zumindest die Zweifel an der eigenen Identität – das ist sehr nachvollziehbar und bedrohlich. Ich musste zwischendrin vorblättern (das lehne ich sonst grundsätzlich ab!), nur um zu sehen, ob Michael Bellicher eines Tages wieder mit anderen Personen spricht. Das Bedürfnis nach vertrauensvoller Kommunikation wurde bei mir übermächtig.

Daran zeigt sich eine weitere Qualität des Thrillers: Ich hatte bei aller Genrekenntnis keine Ahnung, worauf das hinausläuft. Alles war denkbar. Die völlig Zerstörung des Selbst der Hauptfigur schien mir (trotz Ich-Form) ebenso glaubhaft wie die Möglichkeit, dass Bellicher tatsächlich in die Verbrechen verstrickt ist, die man ihm vorwirft.

Ich habe das erste Buch mit Bellicher von den Tex nicht gelesen, darum war mir die Hauptfigur unbekannt. Und sie war mir unsympathisch: ein geleckter Unternehmensberater, der sich was auf seine Schnelligkeit und seine elektronischen Geräte einbildet. Und als es dann immer wieder hieß, vor zwei Jahren hätte er unter Mordverdacht gestanden, seine Freundin sei ermordet, seine Existenz zerstört worden – da wurde er mir noch dubioser. Schließlich kann kein Mensch ohne Grund so viel Pech haben. Ich habe lange gebraucht, um zu verstehen, dass es sich dabei um Rückbezüge auf das Vorgängerbuch handelt und nicht um eine hintergründig ihre Wirkung entfaltende Charakterisierung der Hauptfigur.

Da schimmert die erste Schwäche des Thrillers durch.

Durch ihre früheren Erlebnisse wird die Hauptfigur unglaubwürdig. Wem begegnen so viele Verbrechen, ohne dass er Polizist oder Krimineller ist? Auch Teile der Konzeption des Thrillers werden auf diese Weise fraglich: Wozu sind diese Rückbezüge notwendig? Sie bringen keinen Erkenntnisgewinn, im Gegenteil: Sie werfen ein falsches Licht auf die Hauptfigur. Warum nicht eine neue Figur wählen? Warum muss eine Krimiserie entstehen?

Mit den ersten Zweifeln kommen weitere hinzu, kleine Gifttropfen, die das Gesamterlebnis trüben. Die Wahl der Erzählperspektive ist prima. Konsequent aus Sicht einer Figur in Ich-Form. Dem Thema angemessen. Das Ich bleibt als Stimme – aber mit welcher Identität? Das wird nicht explizit ausgeführt, schwingt aber mit. Was macht Identität aus? Allerdings rutscht der Erzähler manchmal in einen auktorialen Habitus. Dann weiß er auf einmal, was andere denken, fühlen, was sie antreibt. Schnell wird dann hinterhergeschoben: „das stelle ich mir zumindest so vor“ (oder Ähnliches) – aber da ist’s schon zu spät. Konstrukt durchbrochen. Das wirkt etwas ungelenk.

Dazu kommen weitere Unbeholfenheiten – merkwürdige Zusammenfassungen des Geschehens, die vermuten lassen, dass der Autor den Überblick über das verloren hat, was er gerade geschrieben hat; die Darstellung von Erleben durch Zuschreibungen, nicht durch das, was Figuren sagen oder tun.

Gut – da werde ich pingelig. Aber alles in allem sagt es mir, dass ich den Thriller gut finde, realistisch, spannend, durchdacht – aber begeistert bin ich nicht.

Eine Sache allerdings finde ich richtig klasse: Bellicher merkt, dass er andere braucht, um er selbst zu sein. Ohne soziales Netz, ohne Unterstützung keine Identität. Auch keine Fallaufklärung. Das ist prima. Mir hängen die taffen Alleinunterhalter zum Hals heraus. Die beziehungsunfähigen Ermittler – ob nun Profi oder Amateur –, die in Selbstmitleid und sozialer Inkompetenz baden – sie sind Dinosaurier. In der heutigen Welt weder glaubwürdig noch überlebensfähig. Das Heute ist viel zu zersplittert, zu spezialisiert, in Nischen aufgeteilt und gleichzeitig zu vernetzt, als dass ein Einzelner sich darin zurechtfinden kann (nicht ohne Grund gibt es eine riesige Beraterbranche und umfangreiche Ratgeberliteratur zu allem und jedem). Was bei Hammett und Chandler noch ging, ist heute undenkbar. Jeder einsame Wolf ist ein lächerliches Fossil.

Kirsten Reimers

tex_trenner.jpg

„Jemand musste Josef K. verleumdet haben, denn ohne dass er etwas Böses getan hätte, wurde er eines Morgens verhaftet.“ So lautet einer der berühmtesten Romananfänge der Weltliteratur, und man kommt bei der Lektüre des niederländischen Thrillers „Die Zelle“ nicht umhin, an Kafka zu denken. Dabei sollte Michael Bellicher, der von den Polizisten, die er als Zeuge eines schwere Verkehrsunfalls selbst herbeigerufen hatte, festgenommen wird, längst nicht so erstaunt sein wie Josef K., den man bis zu seiner Hinrichtung im Unwissen darüber lässt, was ihm eigentlich vorgeworfen wird. Schließlich ist Bellicher bereits in Charles den Tex erstem in Deutschland veröffentlichten Roman „Die Macht des Mr. Miller“ zum Spielball des Treibens finsterer Mächte geworden und kennt sich mit den durch das weltweite Netz ermöglichten Manipulationen bestens aus. Dass er dennoch schockiert ist, als ihm vorgeworfen wird, einen Unfall mit Todesfolge verursacht und anschließend Fahrerflucht begangen zu haben, gehört zu den Spielregeln dieses Thrillers, dem es um nichts weniger als die Fragilität der eigenen Identität in der digitalisierten Gesellschaft geht. Und schon bald folgen weitere Indizien, die belegen, dass Bellichers bürgerliche Existenz als erfolgreicher Unternehmensberater in höchstem Maße gefährdet ist. So platzt ein auf seinen Namen getätigter Kredit über einen Millionenbetrag, während er sich plötzlich als Eigentümer heruntergekommener Gewächshäuser wiederfindet.

Aber im Unterschied zu Josef K. weiß Bellicher sich zu wehren, verfügt er doch über einen einflussreichen Kompagnon, der ihm ein schlagkräftiges Team zur Seite stellt. Ein gewiefter Anwalt, IT-Spezialisten mit nahezu magischen Fertigkeiten und ein fast perfekter Leibwächter machen den Kampf gegen die Identitätsräuber beinahe zum Vergnügen. Dies gilt zumindest für den Leser, der nicht einen Moment daran zweifelt, dass die Welt des Michael Bellicher am Ende wieder halbwegs in Ordnung kommt. Bis zum nächsten Mal natürlich.
Charles den Tex’ Thriller nutzen das reale Bedrohungspotenzial der Internet-Kriminalität als handlungstragendes Element, ohne daraus wirklich ästhetische Konsequenzen zu ziehen. Allem Computer-Schnickschnack zum Trotz bedient sich der Autor, wie schon in „Die Macht des Mr. Miller“, literarischer Techniken, die auch schon im 19. Jahrhundert dafür gesorgt haben, dass Lesesüchtige den weltweiten Verschwörungsszenarien der Kolportageproduzenten verfielen. Und es ist schön festzustellen, dass diese Rezepte noch immer zum gewünschten Ergebnis führen.

Joachim Feldmann

tex_trenner.jpg

Der Krimi als Transporteur gesellschaftlicher Aufklärung? Im 19. Jahrhundert war das durchaus Usus, denn auf den leichten Schiffchen des Trivialen konnten Informationen und Meinungen auch jene Strände ansteuern, die zuvor mit solcher Fracht kaum rechnen konnten. Aber heute? Im Informationszeitalter? – Ist es immer noch vonnöten. Es geht um nichts weniger als unsere Identität, die sich windige Datensucher, vor allem via Internet, Stück für Stück aneignen, mal klammheimlich, mal dreist-offen. Und viele der potentiellen Opfer agieren dabei als Helfershelfer. Man hat ja nichts zu verbergen, gelt? Es geht doch um die „Community“, den schlichten Spaß, das Schnäppchen. So entstehen Bewegungsprofile, Konsumprofile, Präferenzprofile für alle Gelegenheiten, gar Krankheitsprofile, die man in Personalabteilung aufmerksam studiert. Daten allesamt, die dazu geeignet sind, Identität zu manipulieren, einzugrenzen, beruflich zu zerstören. – Und am Ende ganz auszulöschen?

Das ist das Thema des Kriminalromans „Die Zelle“. Es ist ein wichtiges, ein häufig unterschätztes Thema, es sind Informationen, die wir zwar kennen sollten, zugunsten anderer Dinge – nicht selten solchen, die man uns zur Ablenkung hinwirft, einen gekreuzigten Klinsmann beispielsweise – aber sträflich vernachlässigen. Der Kriminalroman nun, das noch immer leichte Schiffchen, transportiert uns die Problematik ins Bewusstsein. Mit ihren eigenen, manchmal starkgebärdigen Methoden.

„Die Zelle“ beginnt grandios. Ein Unschuldiger gerät in die Mühlen der Justiz, soll einen Unfall mit Todesfolge und Fahrerflucht auf dem Kerbholz haben, die Fakten sind eindeutig. Er kann es sich nicht erklären, er bockt, er schreit, er bricht zusammen, er schöpft Hoffnung, er weiß nicht, wie ihm geschieht. Als Leser wird man in den Text gezogen und fragt sich, was der Autor daraus machen wird. Etwas Kafkaeskes? Eine negative Utopie gar, die am Ende keinen Trost bereithalten wird? Natürlich nicht. Wir lesen einen Kriminalroman, einen recht flotten, leicht konsumierbaren dazu, alle Bausteine des Genres inklusive. Dass etwa jener Unfall, den der Protagonist beobachtet, mit seinem eigenen Schicksal zusammenhängt (und natürlich gar kein Unfall war), das ahnen wir schnell. Okay, Zufälle passieren, in Krimis aber vielleicht ein wenig zu häufig, ein wenig zu offensichtlich, was die Story betrifft.

Wir lesen einen Kriminalroman. Und sehr schnell baut sich eine Achse der Guten auf, die gegen die Achse des Bösen zu Felde ziehen wird. Jetzt wissen wir: Das Gute wird am Ende siegen. Dass gerade diese Guten etwas blass bleiben, schemenhaft – nun ja. Es ist wohl Absicht, denn „Die Zelle“ ist ein Buch, das den Widerstand gegen den Identitätsklau propagiert und vorgibt, dieser Widerstand könne Erfolg haben. Dass die „Bösen“ vielschichtiger beschrieben werden und am Ende die Trennung der beiden Seiten für einen Moment aufgehoben wird, das ist gut gemacht.

Wie überhaupt vieles in diesem Roman gut gemacht ist. Die Schilderung der nächtlichen geheimen Zukunft der „Identitätslosen“ etwa. Natürlich pointiert wie alles in diesem Roman, besonders der Identitätsklau selbst, der in Wirklichkeit weit weniger spektakulär ablaufen dürfte. Gelungen auch des Helden traumatische Erlebnisse in der Gewalt des Geheimdienstes, in der „Zelle“, mit all den mehr oder weniger subtilen Arten der Folter. Auch der Grund, warum man Menschen um ihre Identität bringt, ist mehr als real. Die gestohlenen Identitäten werden nämlich „islamischen Fundamentalisten“ zur Verfügung gestellt. Und diese Angst vor dem Fundamentalismus, der schnell zu Terror werden kann, liegt wie ein beständiges Rauschen über der eigentlichen Handlung. Das hat Gründe, das kommt auch in Holland nicht von ungefähr, wie man es auch im 2004 erschienenen Roman „Der Tod des Kandidaten“ von Tomas Roll auf fast jeder Seite lesen kann. Holland hat ein Problem mit der „Überfremdung“, mit Minderheiten generell – und unterscheidet sich darin kein Bisschen vom Rest der sogenannten „Ersten Welt“.
„Die Zelle“: Ein Kriminalroman, der eine wichtige, vernachlässigte Information transportiert, ohne das Ganze ebenso „künstlerisch“ wie verkaufsschädigend zu durchdringen. In Ordnung. Das ist so trivial, wie es sein soll, um seine „Zielgruppe“, den Spannungsjunkie zu erreichen und zu befriedigen. Sollte die Information hängenbleiben und „sensibilisieren“: recht so. Wir brauchen wahrscheinlich noch viel mehr Romane wie „Die Zelle“.

Charles den Tex: Die Zelle. 
Grafit 2009 (Cel, 2008, deutsch von Stefanie Schäfer).
446 Seiten. 19,90 €

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert