Augenwurm

Es ist ärgerlich, sehr ärgerlich. Sagte Herr Bonnich, der Vorsitzende von „Krimi anders lesen, bitte“ (K.A.L.B.). Man schaue doch nur hin zur Musik! Gerade jetzt! Wo sie alle wieder vor plärrenden Radios und hinter stinkenden Rauchschwaden im Garten beim Grillen sitzen! Und wenn du Pech hast, beschallen sie dich an linden Sommerabenden xmal mit – Herr Bonnich überlegte – DIESER LADY GAGA!

Aber das, sagte Herr Bonnich weiter, ist es halt. Wie kann der Mensch es ertragen, sich zigtausend Mal in seinem irdischen Dasein von OHRWÜRMERN bedudeln zu lassen, ohne dass er spätestens nach dem dritten Mal ein genervtes „Kenn ich doch schon! Was anderes bitte! Laaaangweilig!“ hören lässt, genau der selbe Mensch jedoch niemals ein Buch, einen Krimi auch nur ZWEIMAL lesen würde!

Das ist doch furchtbar einfach, sagte nun Frau Nörss, die Herrn Bonnich wie immer geduldig zugehört hatte. Sie assistierte dem Vorsitzenden von K.A.L.B., das heißt: Sie lenkte seine manchmal abstrusen Ideen in die ihnen angemessenen abstrusen Bahnen. Das ist doch furchtbar einfach, sagte sie also. Weil diese Musikstücke doch höchstens drei Minuten lang sind. Ein Buch aber vielleicht in zehn Stunden zu lesen ist. Das wäre dann – die Richard-Wagner-Ring-Dimension. Und den Schrott hört auch keiner fünfmal am Tag. Ginge ja gar nicht.

Herr Bonnich dachte nach. Darauf war er noch gar nicht gekommen. Man müsste also, sagte er schließlich, analog zur Musik die Kriminalliteratur in großen und in kleinen Happen feilbieten, als Album und Single sozusagen. Eine Krimisingle wäre in drei Minuten zu lesen und enthielte– nun, vielleicht nur die Seite mit der Auflösung des Mordfalls? Darauf kommt es den Lesern doch an! Sie gieren nach der Auflösung! Alles andere ist sekundär! Finden Sie nicht, meine Liebe? Wenn der Leser die Auflösung immer wieder lesen würde…

Nein, fand die Liebe, die Sache habe einen gewaltigen Haken. Herr Bonnich erschrak. Sachen, die einen gewaltigen Haken hatten, mochte er nicht, von denen hatte er reichlich selber. Einen Haken?, fragte er vorsichtig. Einen Haken, bestätigte die Frau Nörss. Den nämlich: Musik kommt von alleine, gewissermaßen. Sie verbreitet sich von einer Quelle aus wellenförmig, sie erreicht die Ohren, ohne dass diese Ohren sich sonderlich um die Töne bemühen müssten. Das kann, seufzte Frau Nörss, manchmal ziemlich lästig werden. Ein Buch aber? Wenn zwanzig Meter von mir entfernt jemand ein Buch liest, dann liest ER ein Buch. Ich bekomme davon nichts mit. Zum Text müsse man sich nämlich bemühen, der komme nicht von alleine wie die Lady Gaga oder – Frau Nörss errötete, denn sie stand auf ihn – Chris deBurgh. Man muss a) den Text vor die Augen halten (wozu man zumeist eine Hand brauche, nein, zwei, eine zum Umblättern) und b) diese Augen irgendwie zeilenweise von links nach rechts bewegen. Das sei Lesen. Das Hören aber ginge eben automatisch und sei deshalb sehr viel beliebter.

Herr Bonnich sinnierte. Es leuchtete ihm ein. Dann aber sagte er triumphierend: Ich habs! Hören! Man muss den Text hören! Er muss einem vorgelesen werden! – Jetzt sinnierte Frau Nörss, denn sie hatte keine Antwort.

Aber schließlich doch. Schön, sagte sie, das mit dem Hören von Texten ginge. Also drei Minuten lange Texte, immer nur die AUFLÖSUNG im Krimi, und das, sagen wir: zwanzigmal beim Grillen vorgelesen. Indes – sie machte eine ihrer rhetorischen Pausen, die Bonnich fürchtete wie den immer wiederkehrenden Traum von der Schlangengrube, in die er fiel – indes… die Musik geht ans Gemüt. Man muss sie nicht eigens aufnehmen mit dem analytischen Sensorium. Den Text aber durchaus. Den muss man VERSTEHEN. Den muss man ERFASSEN. Den muss man INTERPRETIEREN. Kurz: Wer liest, muss denken, anders geht es nicht. Und dabei verkokeln einem die Grillwürste, soll schon vorgekommen sein.

Hm, sagte Herr Bonnich. Wie wahr, wie wahr. Jedoch – er legte nun seinerseits eine seiner gefürchteten rhetorischen Pausen ein – jedoch: Wenn ich einen drei Minuten langen Text – sagen wir: hundert Mal gehört habe, geht er mir doch auch ans Gemüt? Ich muss doch nur beim ersten Mal denken, oder? Danach kenne ich ihn doch! Er ERGREIFT mich! Ich summe seinen REFRAIN mit! Ich weiß schon im voraus, wann das Gitarrensolo – also das Geständnis des Mörders kommt. Jedenfalls: Ich muss kein Stück mehr dabei DENKEN!

Hm, sagte Frau Nörss. Das hat etwas für sich. Das wäre die Kurzversion dessen, was eigentlich immer schon so war beim Krimi. Ich lese in meinem Leben vielleicht tausend Krimis, aber eigentlich lese ich nur einen, und wenn ich den zweiten lese und den hundertneunten und den neunhundertneunundneunzigsten, dann lesen sich die immer noch wie der erste, der Refrain bleibt der gleiche, alles eine Soße, wie man so sagt – und denken muss ich auch nicht.

Dann hätten wir es doch!, lachte Herr Bonnich. Ab sofort gibt es Kriminalromane als Textalben, die man vielleicht einmal jährlich – wie Richard Wagners „Ring“ – konsumiert. Und wenn gerade Grillfest ist, legt man die Single auf, die Auflösung. Und nudelt und nudelt und nudelt sie ab.

Und wieder hatte ein Brainstorming von K.A.L.B. sein abstruses Ende gefunden.

dpr

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