Fred Vargas: Der verbotene Ort

Vorweg: Ich glaube an die Existenz von Vampiren. Mit ihrem neuen Roman, „Der verbotene Ort“ hat mich Fred Vargas davon überzeugt, dass es diese Untoten gibt- jedenfalls in der Wirklichkeit des Textes. Das ist keine geringe Leistung.

Beginnen wir mit dem Protagonisten. Jean-Baptiste Adamsberg, wer oder was ist das? Diese Frage können wir nur beantworten, wenn wir feststellen, wer oder was er nicht ist. Er ist kein wandelndes Lexikon; diese Rolle fällt seinem Mitarbeiter Danglard zu. Er reimt sich die Dinge nicht wie Sonette zusammen; dafür hat er Veyrenc. Er kümmert sich nicht um die physische Erhaltung sein Körpers; für die Fressalien sorgt Froissy. Naiv ist er auch nicht; naiv ist Estalère. Ist Adamsberg mütterlich-beschützend? Nein; aber Retancourt. Logisch ist Mercadet, dafür aber auch extrem schlafbedürftig. Redegewandt, ausgleichend, liebenswürdig, kompetent, mit einem Faible für Mythen und Märchen? Mordant; nicht Adamsberg. Normalerweise.

So geht es weiter, die ganze Brigade durch, deren Kopf Adamsberg… nein, schon falsch. Adamsberg ist nicht der Kopf, er ist ein Teil davon. Zuständig für das Wolkenschaufeln, die Annahme jedweden Impulses, seine Verdrehung, seine Verbindung mit anderen Impulsen, bis aus dem ganzen Geweb am Ende eine Geschichte geworden ist. In „Der verbotene Ort“ werden wir u.a. mit einem Verbrechen schrecklichster Art konfrontiert, der physischen Zerstörung eines Mannes, seiner Fastpulverisierung in Hunderte von Kleinteilen – nun, ganz so viele sind es bei Adamsberg nicht, aber auch er ist lediglich ein Teil eines menschlichen Gehirns, das „kreative Zentrum“, dem die anderen Teile – Danglard et Cie. – zuarbeiten. Das ist eine vor allem für Kriminalliteratur tragfähige Variante des bekannten Phänomens, Teile einer Persönlichkeit in andere Figuren auszulagern. Der Wolkenschaufler Adamsberg nährt sich von den Dingen, die ihm seine Ratio, meine Emotionalität zutragen. An die Gesetze, nach denen diese Zuträger funktionieren, ist es jedoch nicht gebunden. Was ihm etwa Danglard an Wissen preisgibt, verwendet Adamsberg ganz im Sinne seiner Imagination.

So schreibt Fred Vargas seit Jahren einen einzigen Roman, von dem sie immer wieder neue und unterhaltsame, zumeist auch verblüffende Varianten veröffentlicht. Das Verblüffendste daran mag der Erfolg sein, ein quer durch alle Leserschichten zu hörender Applaus, der unter anderem auf eine breite und in der Summe kontroverse Interpretierbarkeit der Texte schließen lässt. Einig dürfte man sich sein, dass Vargas‘ Romane zwar nach der normalen Alltagserfahrung „unlogisch“ sind, in ihrer Binnenwelt aber stringent folgerichtig. Vielleicht könnte man es mit einem Menschen vergleichen, der sich für Napoleon hält, also ein Fall für die Psychiatrie ist. Er handelt in seiner Wahnvorstellung so lange logisch, wie er tatsächlich seine Rolle spielt, also z.B. NICHT plötzlich in die eines Julius Caesar fällt. Dennoch vermag ein solcher „Irrer“, dessen Existenz nicht mit dem Normativen vereinbar scheint, durchaus „logisch“ mit dieser Wirklichkeit kooperieren. In unserem Beispiel: Der Mann, der sich für Napoleon hält, wird wohl beim Überqueren einer Straße auch darauf achten, nicht unter die Räder eines Autos zu kommen. Seine Wahrnehmung der Außenwelt ist also gegeben und beißt sich nicht mit der Tatsache, dass er als Napoleon gar nicht wissen dürfte, was ein Auto ist.

In „Der verbotene Ort“ spielen, wie stets, „Zufälle“ eine bedeutende Rolle. Es sind natürlich keine Zufälle, sondern die Ergebnisse synaptischer Aktivitäten, eine Art Sinnsuche und Sinnfindung. Adamsberg und Danglard weilen zu einem Arbeitstreffen in London. Am legendären Friedhof Highgate, auch als bevorzugter Aufenthaltsort von Vampiren bekannt und Ruhestätte von Karl Marx, Charles Dickens und anderen, entdecken sie siebzehn Schuhe, in denen Füße stecken. Zumeist schon skelettiert oder doch verwest, als habe man sie längere Zeit tiefgekühlt. Ein Paar der Schuhe identifiziert Danglard als früher im Besitz seines serbischen Onkels befindlich. Zufall?

Zurück in Paris werden Adamsberg und seine Brigade Criminelle mit einem entsetzlichen Verbrechen konfrontiert. Ein älterer Journalist, Sonderling, findet sich in Hunderte von Teilen zerlegt, die teilweise systematisch pulverisiert wurden, in seiner Wohnung. Auch hier spürt die Spur nach Serbien, in jenes serbische Dorf, aus dem auch Danglards Onkel stammt. Womit beide Fälle zusammengehören, was in Krimis beinahe selbstverständlich ist. Noch ein Zufall?

Adamsberg macht sich auf nach Serbien und kommt einer alten Fehde auf die Spur, die sich durch die Jahrhunderte zieht und, kurz gesagt, etwas mit dem Wesen und Unwesen von Vampiren zu tun hat. Inzwischen ist Adamsberg aber selbst zum Verfolgten geworden, „höhere Kreise“ sind sehr daran interessiert, ihn zu desavouieren und selbst als Übeltäter an den Pranger zu stellen. Er kämpft also an mehreren Fronten, gerät in eine aussichtslose Situation, was bei Adamsberg immer auch heißt, dass die Imagination, für die er steht, in einer Sackgasse gelandet ist und Hilfe von außen bedarf. In diesem Falle ist es Veyrenc, der zwar nicht mehr zur Brigade gehört, aber wie deus ex machina aus einem anderen Bezirk des Gehirns auftaucht.

Wie immer wird der Fall am Schnürchen allgemeiner logischer Gesetze bis zum Ende durchgezogen. Ein Täter, ein Motiv, eine Bestrafung. Und das Erstaunen, dass es wieder einmal prächtig funktioniert hat. Adamsberg wandert wie seit jeher durch die Wirklichkeit, indem er eine andere zusammenschaufelt, eine, die sämtliche Zulieferungen aus dieser Wirklichkeit dreht und wendet, bevor er sie zusammensetzt. Das gebiert den seltsamen Effekt, dass wir als Leser uns bisweilen völlig im Hier und Jetzt fühlen, um sofort wieder herausgerissen zu werden.

Aber das ist kein neckisch-folgenloses Spielchen. Die rationale Welt, die zu irrationalen gerinnt, die wiederum nach rationalen Gesetzen funktioniert, die alles andere als rational sind – es ist eine verwirrende Abbildung von Wirklichkeit überhaupt. Da erklärt Ihnen jemand, wie „der Markt“ funktioniert, Angebot und Nachfrage etc., und plötzlich erkennen Sie, was sich nicht erklären lässt: Dass das Irrationale die schöne logische Ordnung geschaffen hat – oder andersrum. Und schon steckt Kommissar Adamsberg seine Nase mitten in die Finanzkrise. Sehr merkwürdig. Und da soll man nicht an Vampire glauben?

Fred Vargas: Der verbotene Ort. Aufbau 2009 (Un lieu incertain, 2008. Deutsch von Waltraud Schwarze). 423 Seiten. 19,95 €

2 Gedanken zu „Fred Vargas: Der verbotene Ort“

  1. Macht nichts, liebe Barb. Das geht mir bei manch allgemein Verehrten genauso. Deshalb wirst du auch nicht mit dem üblichen dreiwöchigen wtd-Leseverbot bestraft. Wir verwarnen dich hiermit nur offiziell.

    bye
    dpr

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert